

Susanne Lin-Klitzing ist seit 2017 Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes. Seit 2007 ist sie Professorin für Schulpädagogik für die gymnasiale Lehrerbildung Universität Marburg.
Harm Kuper ist seit 2006 Professor für Weiterbildung und Bildungsmanagement an der Freien Universität Berlin. Seit 2018 ist er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Geht es Ihnen auch so? Wir staunen über die inflationäre und falsche Verwendung des Begriffs „Homeschooling“ in der Corona-Krise: Die Bezeichnung für das, was in der Zeit der Schulschließungen in Deutschland angeblich stattfand und stattfindet, was aber gar kein „Homeschooling“ ist. Die korrekte inhaltliche Verwendung finden wir, wenn wir beispielsweise in die USA schauen. Dort gibt es keine Schul-, sondern lediglich eine Unterrichtspflicht. Der Unterricht kann – gesetzlich problemlos – jederzeit von den Eltern wahrgenommen werden. Das ist erklärtes Ziel der „Homeschooler“. Dementgegen ist in Deutschland zwar gemäß Grundgesetz-Artikel 6 die Pflege und Erziehung der Kinder die den Eltern zuvörderst obliegende Pflicht, aber die Schule steht nach Artikel 7 unter der Aufsicht des Staates. In Deutschland gilt nicht nur eine Unterrichts-, sondern auch eine Schulpflicht.
Trifft die Bezeichnung „Homeschooling“ denn überhaupt die Verlagerung des Lehr-Lern-Geschehens in den häuslich-familiären Bereich während der Corona-Zeit? Vorderhand mag man an die Bildung einer sprachlichen Analogie zum „Homeoffice“ denken – das im angelsächsischen Sprachraum allerdings auch weitestgehend unbekannt ist oder die Bezeichnung des Innenministeriums meint. Beschreibt „Homeschooling“ zutreffend den von einem Tag zum anderen erfolgenden Rollenwechsel von Eltern zu Lehrkräften, von Kindern zu Schülerinnen und Schülern Zuhause? Organisiert sich die Interaktion in Familien unter dem Einfluss von Corona unterrichtsförmig? Glaubhaft ist vielen Berichten in den öffentlichen Medien eher zu entnehmen, dass dies nicht und allenfalls unter sehr unwahrscheinlich günstigen Umständen, aber selbst dort nur eingeschränkt der Fall ist.
Der Begriff „Homeschooling“ steht für eine gegenüber der öffentlichen Schule dezidiert kritische Bewegung, in der curriculare Normen der Wissenschaftlichkeit, der weltanschaulichen Neutralität und der Liberalität sowie die Beschulung mit anderen in der Schule aufgekündigt und durch partikulare, oft rigide Weltanschauungen ersetzt werden sollen. Der Unterricht in häuslich-familiärer Abgeschiedenheit dient dabei nicht als Notlösung, die in Ermangelung organisatorischer Alternativen gewählt wird, sondern folgt einem Programm, das sich willentlich von der Öffentlichkeit distanziert.
Hinweis zur Diskussion um den Begriff „Homeschooling“: Prof. Dr. Hilbert Meyer hat in einem Gastbeitrag für diesen Blog „Didaktische Ansprüche an Homeschooling und Fernunterricht“ erarbeitet. Im Rahmen seiner Ausführungen unterzieht er den Homeschooling-Begriff dem aktuellen Kontext und Sprachgebrauch angepasst – speziell für Deutschland, das Homeschooling i.e.S. ausschließt – einer Neudefinition:
Arbeitsdefinition: Homeschooling ist ein durch die Schule organisierter Fernunterricht, in dem das gemeinsame Arbeiten in der Klasse/im Lernverband zeitlich befristet aufgehoben und durch individualisierte Hausarbeit ersetzt wird. Sie wird in unterschiedlichem Umfang von den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten beaufsichtigt und von der Schule durch die Arbeit mit Bildungsservern und den Einsatz digitaler Medien unterstützt.
Prof. Dr. Hilbert Meyer
Eine unhinterfragte Verwendung des Begriffs ist gefährlich
Selbst wenn vorausgesetzt werden könnte, dass ein solches Programm mehrheitlich nicht gemeint ist, wenn dieser Tage von „Homeschooling“ die Rede ist, ist doch angesichts mancher demokratie-kritischer Umtriebe, die uns in der Vor-Corona-Zeit bewegt haben und die jetzt mit neuen Verschwörungstheorien durchaus zu befürchten sind, eine unhinterfragte Verwendung der Bezeichnung „Homeschooling“ eher gefährlich und verwundert angesichts des deutlichen Wunsches der Mehrheit der Bevölkerung nach einer möglichst baldigen Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in den staatlichen Schulunterricht um so mehr. „Homeschooling“ wird nämlich längst mit einer außergewöhnlichen Stressbelastung in einer beengten Welt von Arbeitsblättern, Motivationskonflikten und verdichteter Familienarbeit konnotiert. Schlimmer noch: Die Bezeichnung „Homeschooling“ vergrößert eher den (berechtigten) elterlichen Stress und elterliche Überforderung bei der Dauerunterstützung ihrer Sprösslinge wie unter einem Brennglas. Unterrichtskritische Aspekte, die sonst gegenüber Schule und dem herkömmlichen Unterricht vorgebracht werden wie mangelnde individuell eingeteilte, interessenorientierte Lernzeit der Schülerinnen und Schüler, zu wenig kreatives Arbeiten und eigenes Problemlösen in freier Zeiteinteilung, treten unter diesem Brennglas zurück. Schule wird im Wesentlichen in ihrer kustodialen Funktion – als Entlastung der Eltern von Betreuungspflichten – erkenntlich. Aber erschöpfen sich darin ihre Werte?
Nein, denn die staatliche Schule in Deutschland ist der gesellschaftliche Sozialisationsort und bietet einen grundgesetzlich legitimierten Erziehungs-, Bildungs- und Kommunikationsraum für Kinder und Jugendliche. Sie ist ein Ort des Miteinanders, des Austauschs, des Wissenserwerbs, der begründeten und argumentativen Auseinandersetzung, der Einübung von demokratischen Regeln, ja auch der Einordnung in ein soziales Gefüge mit transparenten Regeln des erzogenen und erziehenden Miteinanders wie ihrer Infragestellung, die Kinder und Jugendliche mit allen Vor- und Nachteilen aus ihrer häuslichen familiären Routine und der notwendigen, in der Regel Geborgenheit vermittelnden „Beschränktheit“ herausführt und sie an „fremden“ Erfahrungen wachsen lässt.
Kinder und Jugendliche sollen in der Schule im und für den Unterricht erzogen, sie sollen im Hinblick auf ihr Lernen und Leisten beraten und beurteilt werden, und es wird zudem intendiert, dass sie sich in der Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten in einem integrativen und demokratischen Miteinander auch selbst bilden. Das ist mehr als betreut, qualifiziert und auf Abschlüsse vorbereitet zu werden, wenngleich dies wesentliche Funktionen von Schule beschreibt, nämlich die Qualifikation, Allokation, Integration von Schülerinnen und Schülern sowie die Legitimation des demokratischen Staates und seine zunehmend bewahrend-betreuende Kustodial-Funktion in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Schule soll dabei immer sowohl persönlichkeitsbildende als auch gesellschaftliche Funktionen umfassen. Dann erfüllt sie ihren Sinn vollumfänglich.
Was fehlt(e) davon in der Corona-Zeit? Die Schule als unersetzbarer Ort der personalen Interaktion zwischen Lehrkräften und Schülern und zwischen den Schülern und Schülerinnen untereinander fehlte, ebenso in der Regel der qualifizierte Unterricht mit festen Zeiten für einen gemeinsamen Anfang und einem Ende, der einen strukturierten Lerntag mit gemeinsamen Zielen und mit einer deutlichen Abwechslung vom herkömmlichen Konsumalltag leistet.
Aber auch ein noch so gut angeleiteter (digitaler) Fernunterricht begleitet Kinder und Jugendliche natürlich nicht im selben Maße, wie es die Institution Schule mit ihrem Personal leistet. Selbst ein gelingender Fernunterricht unterstellt Schülerinnen und Schüler stärker ihrer eigenen Selbststeuerung und Selbstregulation (angestrebte Ziele für Schülerinnen und Schüler in der Vor-Corona-Zeit), ihrer „Eigenaufsicht“ und gegebenenfalls der Aufsicht ihrer Eltern und Familienmitglieder, ohne die Voraussetzungen dafür sichern zu können. Erschwerend kam aufgrund der kultusministeriellen Anordnungen in der Corona-Zeit das zeitweilige Aufkündigen aller Verpflichtungsgrade für die Schülerinnen und Schüler hinzu.
Schlussfolgerungen für den Unterricht in der Zeit mit Corona
Die Pandemie ist (noch) nicht vorbei; wir leben nicht in einer „Nach-Corona-Zeit“, sondern in einer Zeit mit Corona. Was sollte deshalb bisher aus den gemachten Erfahrungen resultieren?
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- Sicher gerade kein Auftrag zu einem richtig oder falsch verstandenen „Homeschooling“, sondern eher eine schulische Bildungsinitiative, durch die professioneller Unterricht durch Lehrkräfte und in der Schule unter bestimmten Bedingungen – zumindest in hybrider Form – wieder stattfinden kann.
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- Neben vielem, was hier unerwähnt bleiben muss, aber auch die immaterielle Wertschätzung von Schulen und Unterricht durch professionelle Lehrkräfte in unserem demokratischen Rechtsstaat mit den vielen verschiedenen Funktionen für Kinder, Jugendliche, Eltern, den Staat.
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- Gerade nicht eine solche Initiative, wie sie jetzt in Thüringen anläuft, wo der Datenschutzbeauftragte „Bußgelder für Lehrer {prüft}, die für ihren #Fernunterricht schnelle Lösungen (zoom u.ä.) gesucht haben…“, worauf Annette Theis, eine auf Twitter aktive Lehrerbildnerin und Lehrerin, in einem Tweet vom 7. Juni postwendend antwortete: „Bußgeld von 1000,- für Lehrkräfte? Kein Problem! Da ich nie wieder meine privaten Geräte für dienstliche Zwecke zur Verfügung stellen würde, käme ich zukünftig günstiger weg. Ich spare: PC, Tablet + Pencil + Adapter, Drucker/Kopierer, App-Käufe…“, sondern:
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- eine digitale Grundausstattung der Schulen, der Lehrkräfte und der Schülerinnen und Schüler für den Präsenzunterricht und für ein digital unterstütztes Lernen von Schreibtisch zu Schreibtisch, das im Pandemie-Fall bzw. Hotspot-Fall wie jetzt in Göttingen dazu dient, dass der Präsenz-Unterricht in ausgewählten Funktionen „ersetzt“ werden kann. Genau dann werden Eltern nicht mehr zu ungewollten „Homeschoolern“ werden, und genau dann ist es tatsächlich und vollends angemessen, den Begriff „Fernunterricht“ statt „Homeschooling“ zu verwenden.
Dieser Gastbeitrag ist erstmals am 16.06.20 auf dem sehr empfehlenswerten Bildungsblog von Dr. Jan-Martin Wiarda erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der beiden Autoren und Herrn Wiarda nun auch auf Unterrichten.Digital, da die Ausführungen zur Reflexion und Diskussion anregen und eine interessante Ergänzung zu den Homeschooling-Ausführungen von Prof. Dr. Hilbert Meyer auf diesem Blog darstellen.