Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung! - Plädoyer für eine Neuausrichtung schulischer Lehrerfortbildung 1

Joscha Falck ist Mittelschullehrer, Schulentwicklungsmoderator und Fortbilder in Bayern. Auf seinem Blog beschäftigt er sich mit Schulentwicklung, Digitalisierung und bildungspolitischen Fragestellungen. Kontakt: www.joschafalck.de

Über eine Neuausrichtung schulischer Fortbildungsangebote

Seit Jahren drehen sich Vorträge und schulbezogene Fortbildungen um das Thema Digitalisierung. Die Motivationen sind dabei vielfältig und reichen von politischen Förderprogrammen über pädagogische Neugier bis hin zur Not, Schule digital gestalten zu müssen, weil Corona den Präsenzbetrieb kurzzeitig zum Erliegen brachte. Der digitalen Transformation haftet dabei stets ein Versprechen an, Schule endlich auf die Höhe der Zeit zu katapultieren und ein verstaubtes System zu modernisieren. Damit einher gehen der Hype und die Euphorie vieler Akteur*innen, die unbekannte Pfade auskundschaften und mitunter verheißungsvoll von ihren Entdeckungen berichten. Und in vielerlei Hinsicht ist das inspirierend und verändert Schule schneller als in Jahrzehnten zuvor.

Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung! - Plädoyer für eine Neuausrichtung schulischer Lehrerfortbildung 2

Nun frage ich mich allerdings, wie lange dieser Hype noch anhalten wird. Was soll eigentlich noch kommen, wenn alle Schulen mit digitalen Klassenzimmern und alle Schüler*innen mit digitalen Endgeräten ausgestattet sind? Wird die postdigitale Schule, in der all das selbstverständlich und ohne explizite Hervorhebung von Tablet-Klassen und co. auskommt, wieder „ruhiger“, sodass wir uns dann wieder anderen Themen widmen können? Oder sind die letzten Jahre nur der Anfang einer technischen Hochrüstung des Bildungsbetriebs, deren Steigerungsformen über immer mehr digitale Anwendungen, Künstliche Intelligenz, Virtual Reality bis hin zum Unterrichten im Metaverse reichen werden?

Eine geistige Kreisbewegung 

Ich frage mich das auch deshalb, weil in vielen Fortbildungen mit der Logik des Unterrichtens mit X eine geistige Kreisbewegung einzusetzen droht. Immer noch mehr neue Tools erfordern immer wieder neue Anwendungskompetenzen, die beigebracht und/oder erlernt werden müssen. Dazu kommen neue Versprechungen, didaktische Ideen noch besser, anschaulicher und effizienter umsetzen zu können. Der Fokus liegt dabei aber häufig auf dem X und nur selten auf Unterrichten und noch seltener auf Lernen. So ist es zwar beeindruckend, dass die Datenbank von Find-My-Tool bereits über 1000 Einträge zählt[1], doch das Konzept einer wirklichen Veränderung von Unterricht wird nicht mitgeliefert. Und auch Blog-Beiträge, Twitter-Hinweise und Insta-Empfehlungen bleiben uns häufig die Antwort auf die Frage schuldig, wie die Tiefenstruktur des Unterrichts mit all diesen Instrumenten positiv beeinflusst werden kann. Selbst vermeintlich innovative Fortbildungsansätze wie STUDYPOINT teacher bleiben da farblos. Bei näherer Betrachtung geht es dann doch wieder nur um digitale Anwendungen, die im Mikro-SchiLf-Stil vor Ort umgesetzt oder in Selbstlernkursen erlernt werden sollen[2].

Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung! - Plädoyer für eine Neuausrichtung schulischer Lehrerfortbildung 3

Ich hege den Verdacht, dass diese digitale Transformation an Schulen zu Ende erzählt ist. Sowohl seitens der Ausstattungskomponenten als auch hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Software mag es vielleicht in der Breite der Schullandschaft noch einen Bedarf geben. Im Prinzip aber sind ausreichend Möglichkeiten verfügbar und die Modi des Anschaffens (Stichwort Medienkonzept), des Einrichtens (Stichwort Administration) und des Kultivierens (Stichwort digitale Schulentwicklung) hinlänglich bekannt bzw. nachlesbar. Wir haben keinen Mangel an Erkenntnis mehr, höchstens noch einen hinsichtlich der operativen Umsetzung. Daran werden auch neue Software-Spielereien oder Hardware-Ergänzungen substanziell nichts ändern.

Die Fortbildung ist tot

In diesem Zusammenhang hat mich ein Gedanke von Volker Arntz, Schulleiter der Hardtschule Durmersheim (Deutscher Schulpreis 2020), sehr nachdenklich gemacht. In der Nachbesprechung einer gemeinsamen Veranstaltung im Juni 2022 sprach er beiläufig davon, dass Fortbildung tot sei. Mit ihr gäbe es nur noch immer mehr vom Gleichen, die eigentliche Transformation würde dadurch aber nicht einsetzen. Dazu bräuchte es andere Ansatzpunkte, andere Hebel und vielleicht auch eine andere Haltung. So sind nicht die Digitalisierung oder die Fähigkeiten einzelner Lehrkräfte der Schlüssel zur Transformation der Schule, sondern der gemeinsam organisierte Aufbruch der schulischen Strukturen, damit die Potenziale der Digitalisierung wirklich genutzt werden können. Gemeint ist damit, sich von den pädagogisch ohnehin fragwürdigen 45-Minuten-Einheiten zu verabschieden oder den Klassenverband zu öffnen und die Fächereinteilung dahingehend abzubauen, dass deren Zuschnitt nicht mehr vorgibt, wann zu welcher Tageszeit welches Thema bearbeitet werden muss. In der Konsequenz brächte das völlig neue Stundenpläne, andere Raum-Konzepte, hybride Lernlandschaften mit Lernplänen und Kompetenzrastern, eine veränderte Prüfungskultur sowie Lehrkräfte-Teams, die Lerngruppen und Schüler*innen die meiste Zeit coachen (können) und nur selten „unterrichten“. Und es bräuchte eine andere Art der Lehrkräfte-Arbeitszeit-Strukturierung, um die nötigen Materialien zu erstellen, Fortbildung und Zusammenarbeit zu ermöglichen und Zeit für die individuelle Lernbegleitung freizulegen. Die Basis dieser Entwicklungen wird jedoch nicht mit Fortbildungen zu digitalen Arbeitsweisen gelegt, sondern erfordert ein grundlegend anderes Verständnis von Lernprozessen.

Struktur-Aufbrüche

In Durmersheim und anderen Preisträger-Schulen kann man viele dieser Struktur-Aufbrüche schon besichtigen. Dort ist es gelungen, Lernen anders zu organisieren, indem Schulentwicklungs-Kräfte an den organisatorischen Strukturen von Schule angelegt wurden. Die Hebel sind nicht digitale Tools, sondern eine gemeinsame Vision sowie die nötigen Management-Prozesse[3], um diese umzusetzen. Hinzu kommen verantwortliche Akteur*innen innerhalb der Schule, die in ihren Fachschaften Materialien und Raster entwickeln und digitale Lernlandschaften konstruieren. Schüler*innen lernen dann in projektartigen Zusammenhängen, individualisiert mit Lernjobs und häufig auch ohne Noten. Stattdessen gibt es Kompetenzbeurteilungen und Lerngespräche. Die Ansätze und Bezeichnungen sind zahlreich, letztlich aber nicht entscheidend. Gemein ist ihnen, einen Rahmen für freiere und gleichzeitig besser betreute Formens des Lernens zu ermöglichen.

Eine Neuausrichtung

Vor dem Hintergrund dieser Beispiele benötigen Fortbildungen und Veranstaltungen zur Transformation von Schule eine Neuausrichtung. Wir sollten den Fokus verschieben – weg von digitalen Möglichkeiten für Unterricht und Lernen, hin zu Bedingungen, unter denen Lernen (auch mit digitalen Möglichkeiten) kommunikativ, kooperativ und kreativ organisiert werden kann. Damit zeitgemäße digitale Ansätze den Nährboden bekommen, auf dem sie ihre Potenziale wirklich entfalten können. Damit Blended-Learning-Szenarien wirklich eine Chance haben, um Einzug in die Präsenzschule zu erhalten. Und damit unterrichtliche Strukturen möglich werden, die kreative Entfaltung, effektive Zusammenarbeit, unterstützende Begleitung und individuelles Feedback wirklich zulassen.

Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung! - Plädoyer für eine Neuausrichtung schulischer Lehrerfortbildung 4

Wollte man von dieser Fokusverschiebung Tagungsthemen, Barcamp-Titel oder Fortbildungsbezeichnungen ableiten, so würden diese anders klingen als die der derzeitigen Angebote. Sie trügen dann nicht mehr Titel wie „Interaktive Inhalte mit H5P“ oder „Arbeitsblätter erstellen mit Canva“, sondern zum Beispiel „Klassenverbände lernförderlich auflösen“. Oder „Fächer in offene Lernbüros überführen“, „Individuelle Kompetenzraster statt Standard-Anforderungen“ oder auch „Die Enträumlichung des Klassenzimmers“.

Freilich sind das nur einige Beispiele, die auch davon leben, wer dann dazu etwas beizutragen hat und wie sie konkret umgesetzt werden. Und ob die jeweiligen Personen auch auf Erfahrungen zurückgreifen können, was wirklich zielführend war und was nicht. Nicht umsonst sind Personen wie Micha Pallesche (Rektor der Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe), Stefan Ruppaner (Rektor der Alemannenschule in Wutöschingen) oder der besagte Volker Arntz gefragte Referenten. Sie können authentisch davon berichten, wie die eigentliche Transformation zur zeitgemäßen Schule geglückt ist. 

Den Genügsamkeitsreflex überwinden

Die Beispiele machen deutlich, dass eine andere Art von Lernen andere Bedingungen braucht, die zuerst oder zumindest auch verändert werden müssten. Bislang, so könnte man unterstellen, sind wir den zweiten Schritt vor dem ersten gegangen. In der Hoffnung, dass digitale Unterrichtselemente einen revolutionären unterrichtlichen Wandel einläuten. Nachdem dieser augenscheinlich nicht einsetzt, wird es Zeit, die Fortbildungslogik zu überdenken. Nun mag mancher entgegnen, dass derartige Ideen schwierig umsetzen sind und aus diesen oder jenen Gründen vor Ort nicht realisiert werden können. Und wahrscheinlich liegt auch genau darin der Grund, warum sich nahezu die komplette Fortbildungslandschaft auf Apps und Tools konzentriert, die ohne systemische Veränderung in den Unterricht übernommen werden können. Ein Genügsamkeitsreflex im Rahmen des Möglichen und in der Redundanzlogik gleichsam typisch für die digitale Welt. Angeboten wird, was gut ankommt und die Zielgruppe erhält das, was sie ohne große Mühe verwerten kann.

Wer jedoch ein wirkliches Interesse an der Transformation von Schule und Unterricht hat, sollte den Fokus verschieben, und dorthin blicken, wo diese Transformation bereits gelungen ist. Um dann von einer Veranstaltung zurückzukommen und mit dem Struktur-Aufbruch zu beginnen. Vielleicht erst im kleinen Rahmen des eigenen Klassenzimmers. Vielleicht aber auch, um den Funken des Transformations-Hypes in neue Bahnen zu lenken. Und um die eigene Schule gemeinsam mit anderen Stück für Stück zu einer zeitgemäßen Lernumgebung weiterzuentwickeln.

Nachtrag: Die Diskussion zu „Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung“ im #twitterlehrerzimmer

Nachdem der Beitrag am 05.10. auf dem Blog von Joscha Falck veröffentlicht wurde, entbrannte eine lebhafte Diskussion bei Twitter. Der Text erhielt zahlreiche positive Reaktionen, die deutlich machen, dass eine überwiegende (oder zumindest gefühlte) Konzentration von Fortbildungen auf digitale Anwendungen an vielen Stellen kritisch beobachtet wird.

So wird von Iris Laube-Stoll z.B. der Wunsch geäußert, endlich wieder über etwas anderes zu sprechen als über Tools und Arbeitsblätter:

Gleichwohl wird von Stephan Reich darüber nachgedacht, ob entsprechende Weichenstellungen überhaupt möglich sind, wenn es nicht auch „von oben“ zu strukturellen Veränderungen kommt:

In diesem Sinne weist z.B. auch Henning Müller darauf hin, dass diejenigen, die über solche Fragen in Ruhe nachdenken können, bereits privilegiert sind und Cornelia Stenschke wünscht sich mehr Differenzierung in der Frage, ob es nicht von der Blase/Umgebung abhängt, dass ein bzw. kein Mangel an Erkenntnis vorliege:

Darüber hinaus mahnt Mike Graf an, dass ihm der Beitrag zu polarisierend und pessimistisch sei:

Kritisch äußert sich auch Jan Vedder, einer der Initiatoren der im Text angesprochenen Fortbildungsplattform STUDYPOINT teacher. Er fragt, welche der beschriebenen Prozesse vom Autor schon selbst umgesetzt worden seien und woher die Kenntnisse über die Kurse der Fortbildungsplattform kommen, sodass diese als „farblos“ bezeichnet werden können.

Emanuel Nestler nimmt hingegen mit, dass Fortbildungen auch gänzlich andere Titel bekommen könnten, insofern sie die Veränderung der Lernkultur als Ziel haben. Dennoch brauche es dazu aber auch erstmal Lehrkräfte, die den Aufbruch der Strukturen überhaupt wollen, so Cathleen Henschke:

Und so weist auch Michael Debbage darauf hin, dass z.B. die Stabsstelle der ALP Dillingen in Bayern durchaus tiefgehende Fortbildungsangebote vorzuweisen habe, die als „Shift“ hin zu einer tieferen Auseinandersetzung gelesen werden können:

Überhaupt könne man, so Christiane Eckhard, Tool-Fortbildungen auch dahingehend verstehen, dass sie Einzelnen die Chance gegeben haben, sich auf den Weg zu machen:

Mit einer übergeordneten Perspektive arbeitet Tobias Schreiner heraus, dass es zwar die beschriebenen Preisträger-Schulen gebe, aber kein Konsens vorliege, dass deren Konzepte den tradierten Erscheinungsformen von Schulen überlegen seien. Vielmehr sieht er den Beginn einer Schulstrukturdebatte:

Ergänzend dazu kommentiert Florian Kohl, dass es ja darum gehen müsse, wie alle Kinder gut lernen können. Die Strukturdebatten seien ja vor allem unter Lobbygruppen kontrovers, eben auch, weil es um ein ganz grundsätzliches Verständnis von Leistung gehe:

In der Summe machen die Rückmeldungen deutlich, dass die (digitale) Transformation der Schule wohl so etwas ist wie eine begriffliche Projektionsfläche ist. Je nach Perspektive kommt die gewünschte Veränderung dann als aufgefrischtes und modernisiertes „Weiter so“ daher oder eben als Neuaufstellung grundsätzlicher Bedingungen für schulisches Lernen. Konsensfähig ist dann vielleicht doch nur das (unpolitische?) Digitale im Einsatz (unschuldig daherkommender) Tools. Mit ihnen kann Unterricht sehr grundlegend verändert werden oder eben auch nicht.

Und so landet die Diskussion wieder am Beginn, bei dem es darauf ankommt, welches Ziel verfolgt wird. Der Autor von „Die Fortbildung ist tot, es lebe die Fortbildung“ hat in seinem Meinungsbeitrag seine Zielvorstellungen der schulischen Transformationen mit Hinweisen auf einige Preisträger-Schulen dargelegt und das Fortbildungsgeschehen daraufhin kritisiert, wenig zu dieser Veränderung beizutragen. Ob Fortbildung dazu überhaupt in der Lage ist oder überhöht wird, ob diese Transformation überhaupt gewünscht wird oder eben keine oder vielleicht nur eine „kleinere“ und ob es nicht ohnehin andere und wichtigere Baustellen gibt (z.B. den akuten Mangel an Lehrkräften), das alles kann kontrovers und kritisch diskutiert werden. Und eigentlich ging es ja auch nur darum: Dass darüber mal wieder diskutiert und nachgedacht wird.

 

Veröffentlicht am 6. Oktober 2022 – Gastbeitrag von Joscha Falck


[1] https://app.find-my-tool.io

[2] https://studypoint-teacher.de/#kursangebot

[3] Die schulische Organisationsform des Umbaus in Durmersheim war bzw. ist SCRUM, eine agile Methode zur Planung und Gestaltung von Arbeitsprozessen. Mit ihr wurde ein Verfahren gefunden und eingeführt, um viele Personen in unterschiedlichen Rollen verantwortlich einzubringen. Den Ergebnissen nach zu urteilen, scheint dieser Umbau gelungen zu sein.

4 Kommentare

  1. Danke für den tollen Beitrag zum Thema „Fortbildung“. Der Artikel ist sehr spannend und das Thema scheint wirklich interessant zu sein. Ich habe den Artikel mit Freude gelesen.

  2. Toller Artikel, Joscha Falck! Ihre Überlegungen zur Neuausrichtung der Lehrerfortbildung stecken voller Anregungen. Anstelle eines technikfixierten Ansatzes lenken Sie den Blick hin zu den essenziellen Aspekten von Lernen, was wirklich erfrischend ist. Glauben Sie, dass der Einsatz individueller Softwarelösungen, ähnlich den maßgeschneiderten Angeboten in der IT-Dienstleistungsbranche, die Kommunikation und Kooperation im Unterricht fördern könnte? Um Ihre Gedanken zu erweitern, könnte auch der agile Entwicklungsprozess aus der Softwareentwicklung interessant sein. Weiter so, Ihre Einsichten sind wirklich wertvoll für die zukünftige Bildungslandschaft!

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.