Die Einführung von Tablets im 1:1-Ansatz erfordert von den Schulen grundlegende Überlegungen, die vor aller Konzeptarbeit und Planung stehen müssen. Sie bestimmen den künftigen Rahmen des Einsatzes neuer Medien im Unterricht und jede Schule muss zunächst für sich diese Fragen eindeutig beantworten:
Warum wollen wir Tablets im Unterricht einsetzen? Welche pädagogischen Ziele wollen wir erreichen? Welche didaktischen Ziele wollen wir (in unseren jeweiligen Fächern) erreichen? Wie lässt sich das Tablet inhaltlich und methodisch in den Lernprozess integrieren? Gibt es bereits ein Medienkonzept an unserer Schule? Welche Rolle kann das Tablet darin einnehmen? Wie muss der technische Rahmen gestaltet sein, um eine effiziente Arbeit zu gewährleisten? Ab welcher Klasse erscheint der Einsatz von Tablets sinnvoll? Wollen wir schon in der Sekundarstufe I mit Tablets arbeiten oder erscheint uns ein Einsatz bspw. im Jahrgang 9 zu früh und wir möchten den Fokus lieber in Richtung Sekundarstufe II legen? Von dieser Frage hängen viele Entscheidungen ab, läuft doch der Unterricht in den unterschiedlichen Jahrgängen auch ganz unterschiedlich ab und erfordert jeweils unterschiedliche Methoden.
Von einigen Schulen, die im 1:1-Ansatz mit Tablets arbeiten, wird immer wieder betont, wie wichtig der möglichst frühe Einstieg in die Arbeit mit den neuen Medien sei, um die Schülerinnen und Schüler möglichst früh auf das Arbeiten mit digitalen Medien vorzubereiten, sie damit „fit für die Digitalisierung“ und „medienkompetent“ zu machen.
Sehr gute Erfahrungen in Jahrgang 9 – Entscheidung für Jahrgang 11
Die hier formulierten Ausführungen bilden eher eine grundlegende Einschätzung ab als ein fundiertes pädagogisch-didaktisches Modell. Insofern sollen sie auch als Diskussionsgrundlage und Ideensammlung verstanden werden – interessant wäre auch eine Sammlung von Argumenten für die Sek. I. In diesem Artikel steht aber, ganz unabhängig von der eigenen Schule, die Option der Fokussierung auf die Sekundarstufe II im Vordergrund – Ergänzungen, Kommentare und Kritik dazu sind erwünscht.
Dennoch plädiere ich trotz sehr guter Erfahrungen im Unterricht der 9. Klasse für einen späteren Einstieg – im Optimalfall ab Klasse 11. Das mag zunächst irrational klingen, bei genauer Betrachtung überwiegen trotz positiver Gesamtbewertung von Sek. I – Unterricht die Gründe für einen Sek. II – Ansatz – gerade angesichts begrenzter personeller und finanzieller Kapazitäten.
In aller Kürze:
1. Im Fokus: Wissenschaftspropädeutisches Arbeiten am Gymnasium 2. Selbständiges Arbeiten in der Sek. II 3. Zeitliche Flexibilität im (neuen) Jahrgang 11 4. Inhaltliche Flexibilität im weniger auf das Lehrwerk zentrierten Unterricht 5. Deutlichere Binnendifferenzierung trotz klarer Zielgleichheit 6. Lehrwerke in der Sek. II schon heute digital erhältlich 7. Kopierkosten im lehrwerkunabhängigen Unterricht 8. Herausforderung "digitaler Unterricht" - ein pädagogisches Argument für die Sek. II 9. Vertiefte Kenntnisse in Textverarbeitung - das Seminarfach gewinnt an Bedeutung und inhaltlicher Schärfe 10. Sechs Kompetenzen digitalen Arbeitens - in der Sekundarstufe II besser förderbar
10 Gründe für eine spätere Einführung von Tablets / iPads in der Sekundarstufe II
1. Im Fokus: Wissenschaftspropädeutisches Arbeiten am Gymnasium
Ganz bewusst entscheiden sich viele Schulen für einen Einstieg ab Jahrgang 9. Ein früherer Beginn erscheint wenig zielführend, zeigen doch sowohl neurologische Erkenntnisse (diese Diskussion kann jetzt hier aber leider nicht eröffnet werden) als auch die pädagogischen Bedingungen in den jüngeren Jahrgängen, dass die Einführung eines neuen Mediums wie dem Tablet ohne gesicherte Erkenntnisse zum didaktischen Mehrwert verfrüht wäre. Mit fortschreitender Sek. I und der zunehmenden Komplexität von Themen und Fragestellungen nimmt auch der Mehrwert des Tablets als multimediales Recherche-, Dokumentations- und Präsentationsmedium zu. Der hohe Zeit- und damit Personalaufwand einer umfassend vorbereiteten Tableteinführung macht aber eine stärkere Fokussierung nötig: Am Gymnasium liegt diese klar auf dem Abitur und damit der Studierfähigkeit. An den Universitäten und im Berufsleben sind digitale Medien inzwischen selbstverständliche Arbeitsmittel, Medienkompetenz wird vorausgesetzt – insofern erscheint es nur schlüssig, angesichts limitierter Personal- und Finanzressourcen der Schule den Fokus auf die Sek. II zu legen. Die in der Sek. I angebahnte und vorbereitete Medienarbeit (mit Schulgeräten) geht schließlich in ein 1:1-Konzept mit Elternfinanzierung (oder einem Alternativmodell) über, um die erheblichen didaktischen Möglichkeiten des Tablets dann im seminarähnlichen Oberstufenunterricht mit kleineren Lerngruppen umso umfassender zu nutzen. In diesem Modell kann in der Sek. I die inhaltliche Arbeit, die medienkritische Vorbereitung und erste praktische Arbeit im Unterricht bspw. mit Poolgeräten, im Vordergrund stehen, die dann die konsequente Mediennutzung in der Sek. II vorbereitet.
2. Selbständiges Arbeiten in der Sek. II
Ob bei der Recherche, Ergebnissicherung / Dokumentation oder Präsentation: In der Sek. II steht häufig selbständiges und eigenverantwortliches Arbeiten im Vordergrund. Gerade in der Schule stellt das Tablet dafür das ideale Medium dar, befähigt es doch die Schülerinnen und Schüler einen vollständigen Untersuchungs- oder kreativen Arbeitsprozess unabhängig und unter Nutzung sämtlicher multimedialer Quellen, aber mit deutlich quellen- und medienkritischer Perspektive, zu nutzen – ähnlich dem Arbeitsprozess an Universitäten und in vielen Berufen.

3. Zeitliche Flexibilität im (neuen) Jahrgang 11
Der in Niedersachsen neu eingeführte Jahrgang 11 bietet die zeitlichen Möglichkeiten, die bisher in Jahrgang 9 kaum vorhanden waren. Aufgrund der inhaltlichen Ausdehnung der bisherigen Fachinhalte von G8 auf G9 bieten sich gerade in diesem Jahrgang Freiräume, um gezielt ein Tablet-Konzept einzuführen und das Arbeiten mit den neuen Medien zu üben. Der Jahrgang 11 könnte in diesem Sinne das Einführungs- und Übungsjahr darstellen, bevor dann im Unterricht der Qualifikationsphase die Tablets als Arbeitsmedium genutzt werden und die Lehrkräfte sich ganz auf die inhaltliche Arbeit konzentrieren können.
4. Inhaltliche Flexibilität im weniger auf das Lehrwerk zentrierten Unterricht
Die Erfahrungen aus der Sek. I zeigen, dass ein großer Vorteil der Tabletnutzung die inhaltliche Flexibilität und Breite des Lernangebots ist. Gerade in der Sek. II kommen diese Vorteile noch deutlicher zur Geltung, läuft doch der Fachunterricht häufig unabhängiger vom Lehrwerk und mit deutlicherem Fokus auf die pädagogisch-didaktische Freiheit der Lehrperson in der Umsetzung curricularer Vorgaben ab. Aktuellere, stärker an den Kurs angepasste, vielseitigere und deutlicher auf die individuelle Planung der Lehrkraft abgestimmte Materialien können problemlos eingesetzt werden. Die Medienvielfalt, die multimedialen Fähigkeiten des Tablets, unterstützen diesen Ansatz zusätzlich im Sinne höherer Schülerorientierung.

5. Deutlichere Binnendifferenzierung trotz klarer Zielgleichheit
Ein Punkt, der selbstverständlich auch für die Sek. I gilt, in der Sek. II aber angesichts des nahenden Abiturs und des nun noch deutlicher zielgleichen Unterrichts in Form des Zentralabiturs an Bedeutung gewinnt. Dank der im vorherigen Punkt genannten Aspekte kann wesentlich stärker auf die individuellen Stärken und Schwächen der einzelnen Schüler eingegangen werden. Inhaltlich differenzierende Materialien können dank digitaler Formate einfacher zur Verfügung gestellt werden, zusätzliche Übungen (wie z.B. Begriffsarbeit oder Definitionen, Vokabeln oder Grammatik mit Quizlet) lassen sich mit dem individuellen Stand der Schüler verbinden und bieten (falls gewünscht auch ganz ohne „Big Data“) viele individuell abgestimmte Übungsmöglichkeiten, die sich ohne großen Zeitaufwand erstellen lassen.
6. Lehrwerke in der Sek. II schon heute digital erhältlich
Vorteilhaft für die Bündelung unterschiedlichster klassischer Medien in einem neuen Medium ist auch der aktuelle Stand der Lehrwerke, die für die Sek. II inzwischen praktisch vollständig digital erhältlich sind. Wird das Lehrwerk im Kursunterricht sowieso eher seltener als in der Sek. I genutzt, kommt dieser Vorteil deutlich zum Tragen. Über das zentrale Portal der deutschen Lehrwerksverlage Bildungslogin lassen sich problemlos Lizenzen aller Sek. II – Lehrwerke aktivieren, die dann digital mit Zusatzfunktionen wie Volltextsuche, Lesezeichen, Markierungen usw. zur Verfügung stehen und ggf. auch spontan genutzt werden können, auf jeden Fall aber immer und auf jedem Mobilgerät abrufbar sind.

Auch sind bereits erste vollständig digitale / multimediale Lehrwerke erhältlich, die nicht nur eine Digital-Abbildung der Schulbücher darstellen, sondern vollständig neu konzipiert sind. Verfasser-, Darstellungs- und Quellentexte sind nur noch ein Bestandteil – diese Lehrwerke bauen auf dem integrierten Mix aller Quellenarten auf: Text-, Audio-, Videoquellen kombiniert mit interaktiven Tabellen und Schaubildern sowie direkt ausfüllbaren Aufgabenformaten bilden ein ganz neues Lehrwerkskonzept. Führend ist hier das mbook Geschichte bzw. mbook für Deutsch, Mathematik oder Englisch, dessen Herausgeber gerade vom Cornelsen-Verlag übernommen wurde und damit als Pionier digital-multimedialer Lehrwerke nun systematisch weiterentwickelt wird. Es existieren bereits Lehrwerke für die Sek. I und Sek. II in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Geschichte (Sek. I).
7. Kopierkosten im lehrwerkunabhängigen Unterricht
Der Einsatz von Tablets kann zu einer deutlichen Senkung der Kopierkosten beitragen. Ein ganz praktischer und nicht didaktischer Vorteil: Aber die regelmäßigere Nutzung von Arbeitsblättern und individuellen Materialien im Kursunterricht führt häufig zu hohen Kopierkosten und einer wahren Papierflut in Richtung Abitur. Dieses Manko lässt sich mit Tablets weitgehend beheben: Die Erfahrungen zeigen klar und deutlich, dass in Klassen mit 1:1-Tablets die Kopierkosten drastisch sinken, da die Materialien digital zur Verfügung gestellt werden. In den mit iPads ausgestatteten Klassen lassen sich diese einfach per AirDrop – an den ganzen Kurs oder aber über vorher festgelegte Gruppen auch individualisiert – digital austeilen und dann auf dem iPad bearbeiten und ablegen.
8. Herausforderung „digitaler Unterricht“ – ein pädagogisches Argument für die Sek. II
Ein entscheidender Punkt bei der schrittweisen Einführung digitaler Medien im Fachunterricht ist die Akzeptanz seitens des Kollegiums. Mit begründeten Bedenken lehnen in der Regel (kleinere) Teile des Kollegiums die neuen Medien ab oder stehen deren Einführung zumindest skeptisch (größere Teile) gegenüber. Gesammelte Erfahrungen an anderen Schulen, die flächendeckend bspw. auch in der Sek. I Tablets eingeführt haben, bestätigen gewisse Bedenken: Denn in der Sekundarstufe I kann die Einführung der neuen Technik mit all ihren Möglichkeiten (aber auch Risiken) im Kontext größerer pädagogischer Belastungen im Vergleich zur Sek. II bei Teilen eines Kollegiums für zusätzliche Skepsis oder aber auch Frustration in der Praxis sorgen. Obwohl sich diese Bedenken bei guter Vorbereitung und Unterstützung schnell als grundlos erweisen, bleiben diese dennoch bestehen. Auch aus diesem Grund stellt der Sek. II – Unterricht gerade für die Lehrkräfte ein optimales Umfeld zum Austesten der neuen Technologie im Unterricht, der neuen Möglichkeiten für einen vielseitigeren und effizienteren Unterricht dar, und kann dem Abbau grundlegender Skepsis dienen.
9. Sechs Kompetenzen digitalen Arbeitens – in der Sekundarstufe II besser förderbar
Mit zunehmender inhaltlicher wie, altersabhängig, pädagogischer Entwicklung lassen sich die von der Kultusministerkonferenz im Jahr 2016 im Strategiepapier „Bildung in der digitalisierten Welt“ formulierten sechs „Kompetenzen in der digitalen Welt“ besser und vor allem systematischer fördern. Einige der in den vorherigen Punkten genannten Charakteristika des Sek. II – Unterrichts im Vergleich zum Sek. I – Unterricht begünstigen die Förderung der hier skizzierten Kompetenzen teils deutlich – Studien zu dieser These fehlen aber nach wie vor.

Der hier nur zur Verdeutlichung angeführte Überblick über die sechs Kompetenzen lässt sich auch in einer Online-Mindmap nachlesen, die zugleich die Grundlage für die medienvorbereitende inhaltliche Arbeit in der Sekundarstufe I darstellen könnte.
10. Vertiefte Kenntnisse in Textverarbeitung – das Seminarfach gewinnt an Bedeutung und inhaltlicher Schärfe
In einer umfassend mit Tablets ausgestatteten Sekundarstufe II kann das Seminarfach (in Niedersachsen) an neuer Bedeutung als Fach für Textverarbeitung, Textüberarbeitung und Präsentation gewinnen. Scheitert die konsequente Arbeit mit digitalen Textformaten im Seminarfach häufig an den zu wenigen verfügbaren Geräten, wäre dieser Nachteil in einer mit Tablets ausgestatteten Sek. II aufgehoben. Ohne großen Aufwand könnten nun neben der selbstverständlichen Anwendung in weiteren Fächern im Seminarfach fortlaufend die digitale Texterstellung und Textüberarbeitung sowie das Erstellen von Präsentationsformaten vertiefend geübt werden. Während einzelne Schwerpunktstunden gerade in diesem Bereich recht wenig Erfolg zeigen und die Schüler dann häufig z.B. bei der Facharbeit vor großen Hürden stehen, bewirkt die kontinuierliche Arbeit mit den entsprechenden Programmen eine deutliche Progression und vor allem Sicherheit im Umgang mit Office-Programmen. Folgender beispielhafter Ablauf kann dies erreichen: Semester 1: Texterstellung und Textüberarbeitung – Formulieren, Überarbeiten, Formatierung; Semester 2: Erstellen der Facharbeit; Semester 3: Erstellen und Überarbeiten von Präsentationen (Powerpoint, Prezi o.ä.) sowie Präsentieren mit neuen Medien; neu bei Tabletnutzung in Semester 3: Sitzungsgestaltung mit digitalen Medien zur Abiturwiederholung (Präsentieren, Zusammenfassen, Analysieren, Zusammenarbeiten).

Mögliche Alternativmodelle im Rahmen dieses Konzeptes
Völlig klar sollte sein, dass es sich bei den hier skizzierten Ausführungen um grundlegende Ideen im Rahmen der Entscheidungsfindung handelt. Alternativmodelle sind möglich, der konkrete didaktische Mehrwert der neuen Medien kann auch in der Sekundarstufe I ähnlich wie in der Sek. II zur Geltung kommen. Dementsprechend sind auch Alternativmodelle denkbar, wie z.B. der Aufbau von ein oder zwei die Oberstufe vorbereitenden Klassen mit Tablets ab Jahrgang 9 – mit Eltern, die sich bewusst für eine frühere Einführung entscheiden und Schülerinnen und Schülern, die schon etwas früher mit dem Tablet im Unterricht arbeiten wollen, dann aber auch einen methodischen Vorsprung mit in die Sekundarstufe II bringen. Weitere Modelle wären möglich.
Jedoch sollte für die Schulen ein Aspekt entscheidend bleiben: Der zunächst doch recht hohe finanzielle und personelle Aufwand, der für die Einführung der neuen Technik mit allen begleitenden Maßnahmen (Fortbildungen, technische Betreuung, Konzeptarbeit usw. usf.) nötig ist, sofern tatsächlich eine umfassend geplante Einführung erfolgen soll. Für ein Gymnasium sollte sich daher in meinen Augen die Gewichtung hin zu einer Planung „vom Ende her gedacht“ verschieben: Mit den spezifischen Unterrichtsformen der Sek. II, unter intensiver Nutzung der Möglichkeiten der Tablets, und dem Abitur als Ziel im Fokus.