In seinem Vortrag „Schule im digitalen Wandel: Anmerkungen eines Hirnforschers“ hat Prof. Dr. Martin Korte von der TU Braunschweig am Theodor-Heuss-Gymnasium Göttingen auf erfrischend sachliche und überaus anschauliche Weise seine kritischen Thesen[1] zu den Folgen der digitalen Entwicklung vorgetragen.

These 1

Zu viele Informationen gleichzeitig stören das Denken

Unser Denken kann zwar Informationen gleichzeitig aufnehmen, sind es aber zu viele Informationen auf einmal, ist der Mensch im Multitasking-Modus nicht mehr in der Lage zu gewichten, das temporäre Arbeitsgedächtnis versagt, die Fehleranfälligkeit nimmt zu und ebenso die Stressbelastung. Einfaches Beispiel: Ein menschliches Gehirn ist voll ausgelastet, wenn es zwei Menschen beim Sprechen zuhört. Kommt noch eine weitere Quelle hinzu, ist es hoffnungslos überlastet.

Was früher das Bleistiftspitzen verhinderte, erledigt heute das Smartphone. Im Durchschnitt schalten wir 88-mal am Tag unser Bildschirm-Handy an. 35-mal handelt es sich dabei um kurze Unterbrechungen (z.B. Uhrzeit, Absender einer WhatsApp), 53-mal aber um längere Unterbrechungen (Lesen und Beantworten von WhatsApp, Emails etc.). Will also ein Schüler an einer Hausaufgabe arbeiten oder für eine Arbeit üben, so überfordert er sein Gehirn, wenn er es ständig beim Lernen oder Üben unterbricht. Etwa 15 Minuten benötigt das Gehirn, um sich auf eine neue kognitive Situation einzustellen. Daher gibt Korte für erfolgreiches und effizientes Lernen folgende Tipps:

  • Hausaufgaben am Stück erledigen
  • Kein Multitasking beim Lernen und Üben
  • Keine Unterbrechungen zulassen

Schulen, die Doppelstunden eingeführt haben, werden im Übrigen seinen Annahmen gerecht.

These 2

Je mehr wir wissen, desto differenzierter sehen wir die Welt

Viele Menschen überlassen die Wissensspeicherung heute gerne dem Computer mit seiner unermesslichen großen Festplatte bzw. glauben, dass die Suchmaschine ihr fehlendes Wissen jederzeit ersetzen könne.

Tatsächlich sind wir aber nur in der Lage, neues Wissen zu verstehen und zu verarbeiten, wenn wir Vorwissen besitzen. Eine Anhäufung an Informationen ohne Verarbeitung im neuronalen Netzwerk bedeutet daher noch kein Wissen. Soll aus Wissen wiederum Bildung entstehen, muss dem Wissen ein Wert gegeben werden, der uns befähigt, Wissen intelligent einzuordnen bzw. Wissen so abrufen zu können, dass wir in der Lage sind, daraus Entscheidungen abzuleiten. Jemand, der in diesem Sinne Bildung besitzt, muss keine Sorge vor der zunehmenden Informationsflut besitzen, da sein Gehirn selektiv aussortieren und intelligent zuordnen kann. Wissen ist demnach mehr als Information, aber weniger als Bildung.

Für junge Menschen ergibt sich aber ein ganz anderes Bild: Wer sich ohne Vorwissen einer Flut an Informationen ausgesetzt sieht, ist nicht in der Lage, selektiv vorzugehen. Bei ihm bewirken die ungefilterten Informationen vor allem eine vereinfachte emotionale Verarbeitung auf Basis von Stereotypen und einfachen Schwarz-Weiß-Mustern. Daher gehen Neurowissenschaftler davon aus, dass eine massive Internetnutzung allein zu einer oberflächlichen kognitiven Verarbeitung führt und in manchen Fällen zu einer Abnahme des Empathievermögens.

These 3

Der digitale Wandel hat negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit

Es gibt eine ganze Reihe von Gefährdungen, die als konkrete Folge der beschleunigten Digitalisierung aller Lebensbereiche gesehen werden müssen.

So klagen zusehends mehr Menschen über Einsamkeit, Depressionen und Schlafmangel, seit Smartphones auf dem Markt sind. Zwei Drittel aller 12- bis 15-Jährigen berichten zunehmend über Kopfschmerzen, meist Spannungskopfschmerzen, die vom häufigen Gebrauch von Smartphones herrühren. Auch auf die Gefahr der Abhängigkeit wurde hingewiesen. Als besonders gravierend kann die Zunahme von Adipositas gesehen werden. Bereits ein Viertel der Bevölkerung ist nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts davon betroffen. Übergewicht ist nach Kortes Meinung auch eine Folge der Digitalisierung, da sich Menschen weniger bewegen.

Das probateste Mittel gegen diese bedenklichen gesundheitlichen Entwicklungen sei nach wie vor Bewegung. Denn Bewegung

  • regt die Bildung neuer Nervenzellen an
  • verbessert die Durchblutung des Gehirns
  • steigert die Konzentrationsfähigkeit und
  • lässt das Gehirn langsamer altern
korte
Prof. Dr. Martin Korte während des Vortrags am Theodor-Heuss-Gymnasium Göttingen
These 4

Digitale Automatisierung führt zu einem Verlust an Kompetenz

Die erfreuliche Wirkung von Navigationssystemen können die meisten von uns bestätigen. Viele haben aber sicher auch schon gemerkt, dass je mehr man sich auf den digitalen Routenfreund verlässt, desto verlassener ist man, wenn man ihn einmal nicht mehr hat. Das liegt daran, dass unser aktives räumliches Vorstellungsvermögen kaum noch trainiert wird.

In der Schule heißt das: Wir lernen am besten, wenn wir aktiv am Lernprozess beteiligt sind. In Versuchen mit Studenten hat sich herausgestellt, dass sie dann einen Lernstoff am besten wiedergeben konnten, wenn sie ihn eine Stunde lernen durften und dann ohne Hilfestellung rekapitulieren mussten.

Wenn wir Lernstoffe oder Prozesse nur beobachten, nimmt unsere Lernfähigkeit und unser Kompetenzerwerb deutlich ab. Anstrengung dagegen belohnt das Gehirn mit tieferer Erkenntnis und Langlebigkeit der Speicherung der neuen Information.

These 5

Das Bildungsziel muss heißen: Digital Literacy

Der Begriff Literacy bezeichnet die Kompetenz, Lesen und Schreiben zu können. Im weiteren Sinn meint er auch Fähigkeiten, die sich daraus ergeben, wie Textverständnis, Sinnverstehen oder sprachliche Abstraktionsfähigkeit. Digital Literacy bedeutet, dass man diese Kompetenzen auch bei der Benutzung digitaler Medien erlangt.

Die Schule sollte nach Kortes Auffassung ein digitales Curriculum mit in die Stoffplanung aufnehmen. Dabei darf man nicht bei der Vermittlung und Aneignung von Fertigkeiten zum Gebrauch digitaler technischer Produkte stehen bleiben. Vielmehr sollen die Schülerinnen und Schüler auch digitale Systeme verstehen und Daten analysieren können. Die Funktionsweise einer Suchmaschine zu verstehen sei ebenso so wichtig wie gezielt mit ihrer Hilfe Informationen zu suchen. IT-Sicherheit (z.B. in Bezug auf soziale Netzwerke) sollte ebenso vermittelt werden wie Kenntnisse über künstliche Intelligenz.

Insgesamt sollte Schule vorbereiten auf eine veränderte digitale Arbeitswelt und daher besonders Kompetenzen vermitteln, die in Zukunft benötigt werden. Dazu gehören:

  • Team- und Kommunikationsfähigkeit
  • Eigenverantwortung und Selbstmanagement-Kompetenzen
  • lebenslanges Lernen
  • ganzheitliches Denken und Handeln
  • technische Fertigkeiten
  • Kreativität

Ganz konkret fordert er, dass die digitale Qualifikation nicht zu Lasten bewährter analoger Inhalte gehen dürfe.

These 6

Schulen brauchen Lernmittel, die individualisiertes Lernen ermöglichen

Obwohl verschiedene Studien gezeigt haben, dass das, was auf Papier gelesen wurde, besser und genauer erinnert werde (die Erklärung dafür könnte in der dreidimensionalen Anordnung eines Textes in Büchern liegen), wurde dieses Jahr zum ersten Mal ein papierfreies Lehrbuch zum Schulbuch des Jahres gekürt: das mBook Geschichte vom Cornelsen-Verlag (mehr dazu hier: Preisträger Schulbuch des Jahres 2018 ).

Korte hebt daran hervor, dass das Buch in besonderer Weise dazu geeignet sei, individualisiertes Lernen zu ermöglichen. Die Schülerinnen und Schüler können individuelle Markierungen in den Texten vornehmen, zusätzlich eigene Fotos und Videos hochladen, Notizen speichern oder Links hinzufügen. Durch die Bearbeitung gestaltet jeder sein eigenes, digitales Geschichtsbuch. Schon nach der ersten Unterrichtsstunde sieht das digitale Buch bei jedem Schüler anders aus.


Will man ein Fazit in Bezug auf unseren Unterricht in der Schule ziehen, so lässt sich hervorheben, dass sich bewährte Lernarrangements sehr sinnvoll mit neuen digitalen Möglichkeiten im Unterricht kombinieren lassen.

  • Grundsätzlich gilt: Kinder sollten nicht zu früh an die Digitalisierung herangeführt werden
  • Unterricht sollte der Informationsüberflutung ohne Vernetzung entgegenarbeiten, indem sinnvoll verknüpfter Wissenszuwachs der Intelligenz und Bildung dient
  • Handlungsorientiertes Lernen bleibt unverzichtbar, will man Erkenntnisgewinn und Lernerfolg verknüpfen
  • An begründeten Unterrichtsmethoden sollte festgehalten werden und gerade der Erwerb von Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Selbstmanagement neben dem Wissenserwerb unverzichtbar bleiben
  • Analoge Medien, die die Identität des jeweiligen Faches ausmachen (denken wir an das Schädelmodell im Biologieunterricht oder den Roman im Deutschunterricht), sollten nicht über Bord geworfen werden
  • Für die Einbeziehung neuer Medien ist die Kreativität der Verlage gefragt. Bislang gibt es leider nur wenige Beispiele, die Handlungsorientierung und individuelles E-Learning auf solch sinnvolle Weise miteinander kombinieren wie das mBook Geschichte
  • Blended Learning, also die Verbindung von herkömmlichen Lernarrangements mit digitalgestützten Lehrmitteln, scheint, sinnvoll genutzt, den Weg in die Zukunft zu weisen. Oder – wie Korte es prägnant ausdrückt: „Blended Learning: Ja! – Sich von digitalen Medien blenden lassen: Nein!“

Claus Schlegel / Theodor-Heuss-Gymnasium Göttingen – Team ML-Projekt

[1] Es sei angemerkt, dass sämtliche Thesen mit klarem Quellenbezug auf Studien versehen waren. Wer sich näher für die – meist amerikanischen – Studien interessiert, wird gebeten, diese direkt bei Herrn Prof. Dr. Korte zu erfragen.

An dieser Stelle sei auch schon auf den folgenden Vortrag im Rahmen der Reihe „Digitalisierung in den Schulen“ hingewiesen: Am Donnerstag, den 08. November 2018 wird Herr Prof. Dr. Klimmt aus Hannover zum Thema „Tablets im Unterricht: eine wirksame Verbindung von virtual reality heutiger Jugendlicher und schulischer Unterrichtsrealität?“ sprechen.

Beginn: 19 Uhr im Theodor-Heuss-Gymnasium Göttingen.

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