Was bedeutet Augmented Reality (AR)?

Neue Formate wie Augmented Reality (AR) bieten für Unterrichtsentwicklung und die Öffnung von Lehr-Lernprozessen sowie einen schülerorientierten Geschichtsunterricht unter den Bedingungen der Digitalität großes Potential. Doch wie funktioniert AR? Ein Beispiel: Ein analoges Lehrmittel, wie im Fach Geschichte das klassische Lehrwerk, wird mithilfe von computergenerierten Visualisierungen erweitert. Aus dem zweidimensionalen Bild im Buch entstehen im AR-fähigen Smartphone oder Tablet 3D-Objekte, d.h. das reale Objekt wird von digitalen Objekten überlagert. AR ist also die computergestützte Erweiterung unserer Realität. Digitale Repräsentationen und die reale Umwelt sind zur gleichen Zeit und am selben Ort präsent.[1] Aus dem Foto eines Gebäudes im Lehrwerk wird beispielsweise die realitäts- und damit maßstabsgetreue 3D-Abbildung, die sich nun erkunden lässt. Stehen Schüler an der Bernauer Straße in Berlin können sie dank einer AR-App durch ihr Tablet oder Smartphone die Realität des Grenzsystems im Jahre 1989 standortgebunden sehen.

Grundsätzlich sind in Bezug auf die Planung von Geschichtsunterricht zwei Formen von AR in der Schule praxistauglich: Bei Location-Based-AR werden virtuelle Überlagerungen auf Basis des eigenen Standortes angezeigt, bei Image-Based-AR erscheinen diese nach dem Scannen sogenannter Marker oder dem Markieren einer Projektionsfläche im Raum.

Welche Möglichkeiten bietet diese Technologie? Gerade für das Fach Geschichte können schon einige wenige Beispiele jedem Interessierten verdeutlichen, wie AR zum historischen Lernen der Schüler beitragen kann.

WDR AR 1933-1945

Die für Android und iOS verfügbare App „WDR AR 1933-1945“ lässt Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges als Hologramme im Klassenraum erscheinen. Mittels AR können Schülerinnen und Schüler die persönlichen Erzählungen direkt und unmittelbar erleben. Dieser individuelle und emotionale Zugang zur Geschichte bietet eine besondere Lernerfahrung: Alleine oder in Kleingruppen erscheinen die Zeitzeugen im Klassenraum, fotorealistische Animationen im Hintergrund vertiefen den Eindruck der individuellen Schicksale. Die durchgeführten Stunden sind dann oft sehr intensiv – fast wie bei echten Zeitzeugen-Besuchen. Denn der – im Zweifel eben auch virtuelle – Besuch eines Zeitzeugen hinterlässt häufig einen starken Eindruck. Hinzu kommt, dass die unterstützenden Animationen – so befinden sich die Schülerinnen und Schüler bei einem Interview zum Bombenangriff auf Köln in einem virtuellen Schutzkeller und streifen danach mit der Erzählerin durch die Ruinen Kölns – die Emotionalisierung noch weiter verstärken. Natürlich entspricht diese Darbietungsform den Sehgewohnheiten heutiger Schüler, die eine starke mediale Aufbereitung gewohnt sind, sollte aber zugleich dosiert eingesetzt werden.

Überhaupt sollten Geschichtslehrkräfte, wenn der Einsatz von AR nicht zum Selbstzweck werden soll, einige grundlegende Aspekte bei der Integration von AR in den Geschichtsunterricht bedenken:

  • Hinzuweisen ist auf die mögliche (emotionale) Überwältigung der Schülerinnen und Schüler. Auch und gerade bei AR sollte historisches Denken gefördert werden, der kritische und unabhängige Blick auf das Gesehene und Gehörte. Der Besuch von Zeitzeugen im Geschichtsunterricht kann dazu führen, dass diese kritische Distanz verloren geht, wie auch empirische Studien zeigen. Schüler sehen dann „[…] die Wahrheit des Zeitzeugen schnell als historische Wahrheit an.“[2]
  • Das bedeutet aber auch, dass Rekonstruktion und Dekonstruktion in Idealform schülerorientiert geplant werden können. Neben der Rekonstruktion historischer Zusammenhänge – ein großer Mehrwert von Zeitzeugen-Interviews – können Schüler mit gezielten Fragen (Stimmt das, was mir erzählt wird? Welche Argumentation wird in der Erzählung aufgebaut? Warum wird mir das erzählt?) viel über historisches Denken lernen.
  • Zugleich lernen die Schüler intensiv an Medien, mit Medien und über Medien. Denn AR zeigt besonders deutlich, wie Medialität den Denk-, Erkenntnis-, Lern- und Arbeitsraum bestimmt. Zu den auf die Zeitzeugen bezogenen Fragen kommen neue Fragen an das Medium: Wie beeinflusst das Medium meine Denk-, Erkenntnis- und Lernprozesse?
  • Auch bei induktiver Gestaltung von Lernprozessen ist historisches Orientierungswissen wichtig. Schüler müssen das Erzählte in den historischen Kontext einordnen können, um die Inhalte sowohl kritisch bewerten als auch ihre vorhandenen Wissensstrukturen erweitern zu können. AR dient dann also als schülerorientierte Erweiterung des grundlegenden Unterricht, der gerade im Fach Geschichte natürlicherweise auch auf den Aufbau von Sachwissen / Sachkompetenz, Orientierungswissen und Überblick über Strukturen abzielt.

Die Website zu der App bietet daher wie eigentlich alle für den Unterricht empfehlenswerten AR-Apps umfassendes Begleitmaterial für den Unterricht. Arbeitsblätter zu den historischen Ereignissen, Biografien der Protagonisten und weiterführende Recherchemöglichkeiten ergänzen den Kern der App, die AR-Interviews.

Fliehen vor dem Holocaust (keine AR)

Die App „Fliehen vor dem Holocaust“ erschließt Jugendlichen über das Medium Film einen Zugang zu den unmittelbaren historischen Erfahrungen mehrerer Holocaust-Überlebender. Mit der Nutzung umfangreicher Zeitzeugen-Videos handelt es sich zwar nicht um eine AR-Anwendung, allerdings ermöglicht sie ebenfalls eine neue Form des Einbezugs von Zeitzeugen und soll daher hier Erwähnung finden.

Eingerahmt von umfangreichem Begleitmaterial für den Unterricht ermöglicht die App Lehrkräften, individuelles und selbständiges Lernen im Geschichtsunterricht deutlicher als bisher zu ermöglichen: Die Schüler wählen eine Person aus, vertiefen einzelne sie interessierende Aspekte und erstellen ein persönliches Album ihrer Begegnung. Die Lernprodukte können abschließend präsentiert und für den weiteren Unterricht verwendet werden.

Auch nach dieser Vorgehensweise lernen die Schüler, persönliche Erinnerungen mit historischen Dokumenten in Beziehung zu setzen sowie beide quellenkritisch zu untersuchen. Damit kann diese App zusammen mit der ebenfalls hier vorgestellten App „WDR AR 1933-1945“ eingesetzt werden. Der Sequenzfokus liegt dann – und das ist eine Neuheit im Geschichtsunterricht – neben der Erarbeitung historischer Zusammenhänge auf der Verbindung von Medienkritik und virtueller Zeitzeugenarbeit.

Zeitfenster

Für den Geschichtsunterricht bieten die „Zeitfenster“-Apps ganz neue Möglichkeiten: Durch AR werden die Räume von heute mit Bildern und Quellen vergangener Zeiten erweitert. Auf einer Karte sucht man nach verfügbaren „Zeitfenstern“, so beispielsweise in Berlin oder Weimar. Vor Ort erkennt die Kamera per GPS die Szenerie und durch anpassungsfähige Bildüberblendung kann man zwischen der heutigen und einer früheren Ansicht fließend wechseln. Neben Bildern werden Quellen wie Dokumente, Audio- und Videoaufnahmen passend angeboten. Auch ohne persönlich am Ort zu sein, lassen sich anhand einer Panoramaaufnahme von heute die Möglichkeiten der Bildüberblendung im Unterricht nutzen.

MauAR – die Berliner Mauer

Auch die 1989 gefallene Berliner Mauer – für viele Schüler heute nur ein abstrakter Begriff und mittels Bildquellen sowie einiger Überreste erlebbar – kann mit AR erlebbar gemacht werden. Die App „MauAR – die Berliner Mauer“ (nur für iOS) stellt auf eindrückliche Weise rund 160 Kilometer des Mauerverlaufs dar.

Die Anwendung lässt sich direkt per GPS-Marker an den Orten des ehemaligen Mauerverlaufs einsetzen und zeigt in diesem Fall auf einer integrierten Karte, wo die Mauer genau stand und wie es vor dem Mauerfall aussah. Allerdings kann das 3D-Modell der Maueranlage auch an jedem Ort außerhalb Berlins angezeigt und virtuell begangen werden. Die Entwicklung von einfachen Stacheldraht-Hindernissen zu einem tödlichen Grenzsperrsystem wird hier eindrücklich visualisiert und von zwei fiktionalen Charakteren aus Ost- und Westberlin erzählt. Diese Erzählperspektive lenkt den Fokus auf den Kern der App – die Grenzanlagen, ihre Weiterentwicklung und ihre Bedeutung für die Menschen in beiden Teilen Berlins. Insbesondere das „begehbare“ 3D-Modell der Grenze bietet Schülern einen eindrücklichen und systematischen Zugang zu diesem ansonsten mit Lehrwerk sowie Bild- und Videoquellen erarbeiteten Thema. Dass die Inhalte zudem individuell oder im Team zu erarbeiten sind, ermöglicht differenziertes Vorgehen, individuelles Arbeitstempo und Wiederholungen besonders interessanter Abschnitte.

Die Schüler meiner 11. Klasse bewerteten den Unterrichtseinsatz sehr positiv und zugleich differenziert. So machten sie deutlich, dass sie die neuen Möglichkeiten von AR-Technologie vor allem in der Erweiterung des Unterrichts sehen, sich aber durchaus die Arbeit mit klar strukturierten Darstellungstexten, Quellen, Zeitleisten und Arbeitsblättern für den Aufbau von Orientierungswissen wünschen. Einen kleinen Einblick bieten die Ergebnisse einer Kurzbefragung aus dem Unterricht:

BBC Civilisations AR

Die von der britischen BBC herausgegebene Anwendung „Civilisations AR“ (für Android und iOS) ermöglicht es, historische und kulturelle Artefakte direkt in das Klassenzimmer oder die jeweilige Lernumgebung zu bringen. Die Skulptur von Rodin, ein ägyptischer Sarkophag, der Stein von Rosette, ein antiker Helm und weitere Objekte können von den Schülern in tatsächlicher Größe oder beliebig vergrößert betrachtet und näher untersucht werden.

Zahlreiche Hintergrundinformationen in Text- oder Audioformat ergänzen die Arbeit mit den virtuell dargestellten Artefakten. So lassen sich ansonsten nur als Bild im Geschichtsbuch visualisierte Gegenstände auf eine Art und Weise erkunden und erarbeiten, die persönlich niemals möglich wäre.

Augmented Reality (AR) im Geschichtsunterricht - 5 Praxisbeispiele 11
Faszinierende neue Möglichkeiten im Geschichtsunterricht: Artefakte selbst untersuchen und kennenlernen

Kurzfazit

Der bedachte und gut strukturierte Einsatz von AR fördert im Geschichtsunterricht das Lernen mit Medien, an Medien und auch über Medien. Es bieten sich für das Fach Geschichte gänzlich neue Möglichkeiten und Zugänge zu historischen Zusammenhängen. Ein reflektierter Einsatz von AR bedeutet insbesondere, diese nicht zum Selbstzweck und ausschließlich mit dem (fachdidaktisch sehr schwammigen) Argument der Motivierung einzusetzen. Dieser Effekt würde sich schnell abnutzen.

Allerdings bedeutet AR eine Erweiterung des Unterrichts, die bis vor kurzem noch undenkbar war. Zeitzeugen kommen ins Klassenzimmer, Orte und Räumlichkeiten können auf verschiedenen Zeitebenen erkundet und historische Artefakte individuell untersucht werden.

Es bieten sich neue Möglichkeiten individuellen Arbeitens – Inhalte können wiederholt betrachtet, bestimmte Themen und Aspekte näher beleuchtet werden, es entstehen räumliche Vorstellungen von ansonsten nur in Schulbüchern abgedruckten Orten.

Die Schüler-Rückmeldungen sind eindeutig positiv, bereits jetzt hat sich die Nutzung von AR für die Erschließung verschiedener historischer Zusammenhänge bewährt. Bedacht werden sollte dabei, dass die Technologie noch ganz am Anfang steht und die Entwicklung gerade erst beginnt.

Doch auch die Schüler gehen in ihrem Feedback ganz deutlich auf einen Aspekt ein: AR stellt derzeit eine gute und motivierende Ergänzung zu anderen im Geschichtsunterricht verwendeten Medien dar – den Darstellungstext, den Zugang über Textquellen und die Arbeit am Zeitstrahl ersetzen sie nicht. Doch haben Lehrkräfte nun eine weitere hochspannende und gerade für den Geschichtsunterricht vielfältig einsetzbare und zugleich intuitiv anwendbare Technologie an der Hand, welche die Planung von Lehr-Lernprozessen bereichert.


Links zum Thema

Bundeszentrale für politische Bildung: Virtual und Augmented Reality im Klassenraum? Ein Überblick bildungsrelevanter Angebote (Grundlagenbeitrag)

Bundeszentrale für politische Bildung: Augmented Reality – technische Spielerei oder Bereicherung für den Unterricht? (Grundlagenbeitrag)

Apple: Augmented Reality im Bildungsbereich – Unterrichtsideen (Ideen für Schulfächer)

didacta Digital: Augmented Reality im Unterricht (Unterrichtsbeispiele)

Betzold Blog: Augmented Reality in der Schule (einfacher Überblicksartikel)

Seegers World: Augmented Reality im Unterricht (einige App-Beispiele)


[1] Josef Buchner, AR. Technische Spielerei oder Bereicherung für den Unterricht? , in: https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/283819/augmented-reality-technische-spielerei-oder-bereicherung-fuer-den-unterricht#footnode1-1

[2] https://www.planet-schule.de/wissenspool/zeitzeugen-des-nationalsozialismus/inhalt/hintergrund.html

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