Dr. Wolfgang Schimpf

Dr. Wolfgang Schimpf ist Schulleiter des Max-Planck-Gymnasiums in Göttingen (Fächer: Deutsch und Geschichte) und Vorsitzender der Niedersächsischen Direktorenvereinigung.

Der vor über einem Jahr vereinbarte „Digitalpakt“ bestimmt inzwischen als gesamtföderales Projekt die bildungspolitische Umsteuerung in allen Bundesländern. Ganz unbestritten wird hierin der Königsweg gesehen, um in der digitalen Premier League mithalten zu können, zumindest in Europa. Zugleich ist da vieles noch in den Anfängen, auch weil der Anspruch auf Co-Finanzierung den Ländern und Kommunen die erheblichen Kosten für externe Systemadministration verdeutlicht hat. Die müssten die Schulträger nämlich leisten, und zwar dauerhaft. In den Bildungsadministrationen der Länder wird inzwischen daran gearbeitet, den Einsatz digitaler Tools im Unterrichtsalltag auch schulrechtlich zu ermöglichen. Dabei geht es darum, „verschiedene mobile Endgeräte im Rahmen des erarbeiteten Konzepts als Lernmaterial anzuerkennen und die einschlägigen Erlasse zu aktualisieren, um ihren Einsatz in Unterricht und Prüfungen zu ermöglichen“. (Entschließungsantrag CDU/SPD im niedersächsischen Landtag v. 19.2.2019).

Mit Wirkung zum 01.01.2021 ist dieser nun einheitlich per Runderlass vom 01.12.2020 geregelt und auf Basis klarer Anforderungen – Einheitlichkeit, Vorbereitung in der Qualifikationsphase und eine Prüfung durch das NLQ – bis hin zum Abitur möglich. Allerdings mit deutlichen und problematischen Einschränkungen, was z.B. das Schreiben einer Klausur mithilfe digitaler Arbeitsmittel betrifft. Das zeigt: Insbesondere die notwendige Einbeziehung von Prüfungssituationen hat sich in der Vergangenheit immer wieder als erhebliches Problem erwiesen – und ist es bis heute.

Textverarbeitung: Endlich neue Möglichkeiten für die Schreibdidaktik nutzen

Zum ersten Mal in der Geschichte der Schreibdidaktik werden Texte von Beginn an für Schüler als das sichtbar, was sie grundsätzlich sind: Entwürfe, Work in Progress.

Der Blick richtet sich dabei auf „Programme und Apps“, die derzeit vor allem den naturwissenschaftlichen Unterricht zu reformieren versprechen. Erstaunlicherweise wird dabei ein Bereich explizit ausgeschlossen, in dem eine Veränderung seit Jahren, ja Jahrzehnten überfällig ist, die Schreibkompetenz. Unabhängig von allen Veränderungen, deren Reichweite wir noch nicht absehen können – etwa das Verschwinden der Handschrift – bleibt doch in Zukunft und wohl in aller Zukunft die Fähigkeit, verständlich strukturierte und differenziert formulierte Texte zu verfassen, zentrales Ziel schulischer Bildung. Es ist daher nicht zu verstehen, dass die seit Jahrzehnten gängigen (und auch in Schule vorhandenen) computergestützten Textverarbeitungsprogramme methodisch nicht systematisch genutzt werden. Und das, obwohl die Universitäten nicht müde werden, die fehlenden Fähigkeiten der Studienanfänger gerade auch in diesem Feld anzuprangern.

Überall, wo ernsthaft geschrieben wird – vornehmlich im journalistischen Genre – ist der PC seit vielen Jahren nicht wegzudenken. Das ist auch völlig einleuchtend: Texte werden so als Entwürfe unmittelbar bearbeitbar, alle Arten von nachträglichen Texteingriffen gehören zu den konstitutiven Möglichkeiten der genutzten Programme. Hinzu kommen assistierende Rechtschreib- und in den letzten Jahren auch Grammatik-Tools, deren Reichweite immer mehr zugenommen hat. Diese Eigenschaften machen zugleich ihr eminentes didaktisches Potential aus: Zum ersten Mal in der Geschichte der Schreibdidaktik werden Texte von Beginn an für Schüler als das sichtbar, was sie grundsätzlich sind: Entwürfe, Work in Progress. Dies kann gerade unter den Bedingungen schulischen Schreibunterrichts, wo Zeitdruck zum Alltag gehört, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gute Texte schreiben zu können, wird wohl überall vorausgesetzt, es systematisch beizubringen, daran ist der Deutschunterricht aber weithin gescheitert.

Das Primat der Prüfungspraxis als Innovationshemmnis

Deshalb schreiben unsere Schüler nach wie vor ihre Klausuren so wie vor fünfzig Jahren: in Heften oder auf Zetteln, unter künstlich erschwerten Bedingungen, denen sich ihre Lehrer selbst schon lange nicht mehr unterwerfen würden.

Umso unverständlicher ist es, dass die eminenten Möglichkeiten solcher Programme noch immer nicht zu einer Selbstverständlichkeit schulischen Alltags geworden sind. Dem steht in allererster Linie die herrschende Prüfungspraxis entgegen. Und da gilt: In keinem Bundesland waren bislang Laptops oder Tablets im Abitur und auch in den vorangehenden Klausuren als Regelfall zugelassen. So auch im bislang gültigen niedersächsischen Erlass, der unmissverständlich verfügt: „Das Verfassen von Prüfungsleistungen direkt am mobilen Endgerät mit abschließendem Ausdruck ist grundsätzlich nicht vorgesehen.“ Und auch nach Novellierung des entsprechenden Runderlasses in Niedersachsen, wird das an vielen Schulen vorerst die Realität bleiben. Nur der als Ausnahme beantragte Nachteilsausgleich erlaubt das Nutzen eines Laptops.

Das hat Auswirkungen auf den Unterricht, der auf das vorbereiten muss, was in den Leistungssituationen gefordert wird: inhaltlich und im Hinblick auf Prüfungsformate. Deshalb schreiben unsere Schüler nach wie vor ihre Klausuren so wie vor fünfzig Jahren: in Heften oder auf Zetteln, unter künstlich erschwerten Bedingungen, denen sich ihre Lehrer selbst schon lange nicht mehr unterwerfen würden.

Realitätsferne Prüfungsformate

Die Verantwortlichen für diesen Stillstand machen sich nicht klar, in welchem Umfang sie dadurch die Validität von Prüfungen unterlaufen: Bei einer handschriftlich zu verfassenden Abiturarbeit wird gemessen, wer in einer vorgegebenen und das heißt: begrenzten Zeit einen möglichst gelungenen Text zustande bringt. Diese Fähigkeit, wiewohl in einigen Berufen gefordert, gehört nicht in die Schule. Abgesehen davon wird sie vorab nirgends systematisch trainiert. In solchen Klausuren werden daher Texte als Ergebnisse bewertet, die nichts Anderes als erste Entwürfe sein können. Die Chance zum zweiten oder dritten Entwurf, den das entsprechende Programm bieten könnte, wird verwehrt.

Folgerung: Neubewertung der Schreibdidaktik im Fach Deutsch

Es kann doch nicht sein, dass man seit Jahren eine nicht sachgerechte Unterrichtspraxis prolongiert, weil man kein geeignetes Prüfungsformat findet.

Das ist ein alarmierender Befund: Es kann doch nicht sein, dass man seit Jahren eine nicht sachgerechte Unterrichtspraxis prolongiert, weil man kein geeignetes Prüfungsformat findet. Es kann doch nicht sein, dass wir die flächendeckende Nutzung von iPads fördern, ihren Einsatz durchaus im Prüfungsmodus zulassen, Klausuren aber mit der Hand geschrieben werden müssen. Das muss dringend geändert werden. Darüber hinaus brauchen wir in allen Bundesländern Curricula des Faches Deutsch, die entschieden mehr Gewicht auf die Schreibdidaktik legen. Bei aller Veränderung sollten doch zumindest die schriftliche Entwicklung und differenzierte Formulierung von Gedanken als nicht verhandelbares Ziel die Unterrichtspraxis aller Schulformen prägen. Dafür die Möglichkeiten der Textverarbeitung endlich auch im Unterrichtsalltag systematisch nutzbar zu machen, ist vor allem anderen das Gebot der Stunde.


Eine Sackgasse für die Schul- und Unterrichtsentwicklung – Kommentar von Hendrik Haverkamp zum Erlass „Nutzung eingeführter digitaler Endgeräte in Prüfungssituationen“ in Niedersachsen

Hendrik Haverkamp

Hendrik Haverkamp ist Koordinator für Digitalität am Evangelisch-Stiftischen Gymnasium Gütersloh und Lehrer für die Fächer Deutsch und Sport. Er ist Referent für die Deutsche Akademie für pädagogische Führungskräfte und berät Schulen bei der Implementierung digitaler Konzepte.

Zeitgemäßer Unterricht verlangt nach zeitgemäßen, digitalen Prüfungsformaten. Die Ausführungen zur Nutzung digitaler Endgeräte in Prüfungssituationen im Runderlass vom 01.12.2020 erweisen der Schulentwicklung einen Bärendienst.

Was gut gemeint ist – nämlich die einheitliche Regelung des Einsatzes digitaler Endgeräte bei Klassenarbeiten und Klausuren – entwickelt sich bei genauerer Betrachtung zu einem Innovationsverhinderungsinstrument. Während viele Schulen langsam in einer Kultur der Digitalität ankommen, zeitgemäßen Unterricht erproben, auf Vertrauen zwischen den Lernenden und Lehrenden setzen und den traditionellen Fachunterricht durch Phasen projektorientierten Lernens, flexibler Lernzeiten oder selbstgesteuerten Lernens erweitern, zementiert das Land Niedersachsen eine überkommene Prüfungskultur.

Philippe Wampfler schrieb unlängst in seinen 10 Thesen zur Schulentwicklung: „Solange Schulen in alten Formaten prüfen müssen, bleiben sie alte Schulen.“ Zukünftig dürfen in Niedersachen zwar digitale Endgeräte bei Prüfungen eingesetzt werden, allerdings nur zur Substitution von Füller und Heft. Alle digitalen Endgeräte werden während einer Prüfung in einen Prüfungsmodus versetzt, der Zugang zu Netzwerken und der Zugriff auf Dateien muss unterbunden werden. Dadurch wird die überwiegende Zahl zeitgemäßer Prüfungsformate praktisch verhindert. Was in niedersächsischen Klassenzimmern zukünftig geprüft und getestet wird, hat wenig mit den Kompetenzen für das 21. Jahrhundert oder mit den 4K zu tun: Kooperation, Kollaboration, Recherchefähigkeiten, das Zurückgreifen auf und das Weiterarbeiten mit Feedback, das Erstellen von multimodalen Lernprodukten etc. – all das wird durch Laptops und Tablets, die im Prüfungsmodus zu digitalen Schreibmaschinen degradiert werden, verhindert.

Am schlimmsten ist jedoch das unterschwellige Misstrauen, das den Schüler*innen entgegengebracht wird. Diese müssen durch alle zur Verfügung stehenden (digitalen) Mittel kontrolliert werden. Nebenbei: Zur Überwachung der Schüler*innen darf dann aber ausnahmsweise das Netzwerk aktiviert werden.

Wie wichtig Vertrauen für eine neue Schüler-Lehrer-Beziehung ist, darauf verweisen auch die Krommerschen Schieberegler für das (Distanz-)Lernen: „So viel Vertrauen und Freiheit wie möglich, so viel Kontrolle und Struktur wie nötig.“ In Niedersachsen kennt der Erlass nur die Kontrolle.

Seit 16 Jahren schreiben meine Schülerinnen und Schüler Klassenarbeiten und Klausuren mit dem Laptop. In letzter Zeit gebe ich zudem bei einzelnen Klassenarbeiten alle Hilfsmittel frei. Es ist gelebte Praxis, dass die SuS während der Arbeit im Internet recherchieren oder sich Zwischenergebnisse vorstellen und darüber diskutieren. In der Corona-Pandemie bin ich dazu übergegangen, Klassenarbeiten und Klausuren ohne Aufsicht in der Schule oder auch zuhause auf dem Laptop schreiben zu lassen – ganz ohne Proctoring-Software und Prüfungsmodus. Das gelingt, wenn man Vertrauen in die Schülerinnen und Schüler setzt, wenn der Lernprozess wichtiger ist als das Lernprodukt (Stichwort: formatives Assessment) und wenn man Aufgaben so stellt, dass Betrug schwieriger ist als ehrliche Arbeit.

Es gibt keinen Bereich in der Berufswelt, in dem man ein wichtiges Projekt ohne Feedback, ohne Kooperation und Kollaboration und ohne Zugriff auf ein Netzwerk erstellen würde – das wird nur in schulischen Prüfungen verlangt, welche die Kinder angeblich auf das Berufsleben vorbereiten sollen. Kein Wunder also, dass Firmen die Aussagekraft der Noten immer häufiger anzweifeln und Absolventen in Assessment-Center auf Herz, Nieren und Verstand testen.

Natürlich haben auch die traditionellen Formen der Leistungsbewertung ihre Daseinsberechtigung. Wie in allen Lebensbereichen, kommt es auf die Mischung an. In diesem Fall setzt Niedersachsen zu sehr auf eine überkommene pseudodigital-analoge Prüfungsmonokultur, zu wenig auf eine zeitgemäße, echte digitale Prüfungspraxis. Aus diesem Grund ist der Erlass eine Sackgasse für die Schulentwicklung. Betrachtet man die jahre- und jahrzehntewährende Geltungsdauer solcher Erlasse, ist die Signalwirkung dramatisch.


Ansätze und Beispiele für zeitgemäße Prüfungsformate in der Schulpraxis – Prüfungen im Distanzlernen, open-book-Klausuren und Klausur on demand

Dass es nicht bei Theorien und Modellen bleiben muss, sondern zeit- und mediengemäße Prüfungsformate sowohl entwickelt als auch in der Praxis genutzt werden, zeigt die noch im Aufbau begriffene Liste einiger Grundlagentexte und Schulbeispiele. Ein für alle Schulen verbindlicher Erlass kann diese Formate nicht einheitlich voraussetzen, könnte aber eben doch Schulen und Lehrpersonen Freiheiten ermöglichen, ihre Prüfungspraxis und damit – wie im Beitrag von Wolfgang Schimpf deutlich hervorgehoben – auch ihren Unterricht weiterzuentwickeln. Denn Prüfungsvorgaben und Unterrichtspraxis sind im heutigen Schulsystem untrennbar verbunden, erst die Entwicklung des einen würde auch die Entwicklung des anderen vorantreiben.

SchwerpunktWeiterlesen
Grundlagenbeitrag "Zeitgemäße Prüfungsformate für den Distanzunterricht":

Ricarda Dreier, Axel Krommer, Björn Nölte und Oliver Schmitz liefern am Beispiel des Faches Deutsch in NRW eine umfassende Einschätzung zur Erlasslage und zu möglichen Strategien für zeitgemäße Prüfungsformate. Ein Beitrag, der zur weiterführenden Arbeit jenseits von Corona-Bedingungen einlädt.
Zeitgemäße Prüfungsformate für den Distanzunterricht (am Beispiel des Faches Deutsch in NRW)
und
eine wesentlich erweiterte Fassung dieses Textes, in die Feedback von Kolleginnen und Kollegen eingegangen ist.
Grundlagenbeitrag "open-book-Prüfungen":

In diesem umfassenden Beitrag von wikiHow wird deutlich, dass auch eine open-book-Klausur, also eine Klausur mit Hilfsmitteln wie Lehrwerk oder Mitschriften, keine einfache Einladung zum Abschreiben darstellt. Vielmehr ändern sich dann auch die Fragestellungen, echtes Verstehen steht vor reinem Wissen - und es sind neue Strategien zur Vorbereitung und Durchführung nötig.

Für interessierte Lehrpersonen eine gute Basis für die Entwicklung eigener open-book-Prüfungen.
wikiHow: Eine Prüfung mit Hilfsmitteln ablegen (oder planen)
Einstieg & Orientierung:

Lars Mecklenburg ließ sich von zwei Tweets zu einer Begründung für unbeaufsichtigte Prüfungen anregen - einmal im Universitätskontext, einmal im Schulkontext
Bevor Sie beginnen - unbeaufsichtigte Prüfung in der Universität

Bevor Du beginnst - unbeaufsichtigte Prüfung in der Schule
Beispiel "open-book-Klausur":

Lars Zumbansen (Gymnasium Harsewinkel) zeigt Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern zu open-book-Klausuren, bei denen das Nutzen von Lehrwerk oder Aufzeichnungen gestattet ist.
Schülerinnen und Schüler zu open-book-Klausuren
Beispiel "Klausur on-demand":

Hendrik Haverkamp lässt seine Schüler in einem offenen Klausurformat, das viele Freiheiten bietet und digitales Arbeiten selbstverständlich integriert, ihre Prüfung schreiben.
In einer Erklärung erhalten die Schülerinnen und Schüler grundlegende Hinweise.
Klassenarbeit Klausur on demand

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