Wie disruptiv wird ChatGPT sein und was bedeutet das für den Unterricht? (Gastbeitrag Dr. Catlin Tucker) 1

Dr. Catlin R. Tucker ist Bestsellerautorin, Keynote-Speakerin, internationale Trainerin und Professorin im Masters in the Arts of Teaching Program an der Pepperdine University. Sie unterrichtete 16 Jahre lang in Sonoma County, wo sie 2010 zur Lehrerin des Jahres ernannt wurde.
Catlin hat eine Reihe von Büchern über Blended Learning geschrieben. Zusätzlich zu ihren Büchern über Blended Learning ist Catlin Herausgeberin eines international bekannten Blogs und Gastgeberin eines Podcasts namens The Balance.

Catlin erwarb ihren BA in englischer Literatur an der University of California in Los Angeles. Ihren Abschluss in Englisch und ihren Master in Pädagogik machte sie an der University of California in Santa Barbara. Im Jahr 2020 promovierte sie im Bereich Lerntechnologien an der Pepperdine University und erforschte das Engagement von Lehrern in gemischten Lernumgebungen.

Catlin ist aktiv auf Twitter @Catlin_Tucker und Instagram @CatlinTucker.

Spätestens seit Ende November ist die Diskussion über die Auswirkungen von ChatGPT, einem von OpenAI entwickelten Chatbot, der auf einem ausgefeilten Sprachmodell basiert, in vollem Gange.

Diese KI-Technologie ist auf Dialog spezialisiert und generiert in wenigen Augenblicken originelle Antworten auf Eingaben wie Fragen oder Aufforderungen („Prompts“). Die Antworten sind ausgefeilt, strukturiert und in den Worten eines Sekundarschullehrers „besser als die meisten Texte, die ein durchschnittlicher Lehrer oder Professor üblicherweise sieht“. Die Auswirkungen der KI-Technologie auf das Bildungswesen lassen viele Pädagogen befürchten, dass dies das „Ende des Englischunterrichts“ und das Ende des Schreibens als authentische Leistungsüberprüfung bedeutet.

Warum verursacht ChatGPT Angst unter Pädagogen?

Ich verstehe, warum eine Technologie wie ChatGPT bei Pädagogen eine so starke Reaktion hervorruft. Sie droht, die Art und Weise, wie viele Schulen und Hochschulen ihre Schüler unterrichten, zu verändern. Nehmen wir an, die Unterrichtszeit wird in erster Linie für die Vermittlung von Informationen in Form von Minilektionen oder Lesephasen genutzt, während die meisten Übungen und Anwendungen außerhalb des Unterrichts stattfinden. In diesem Fall eröffnet ChatGPT den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, Aufforderungen einzugeben, die von ChatGPT generierten Antworten zu kopieren und diese Arbeit als ihre eigene auszugeben. Da der Text nicht von einer Website kopiert wurde, ist es fast unmöglich, zu beweisen, dass es sich nicht um die Originalarbeit des Schülers handelt.

Als ich zum ersten Mal von ChatGPT hörte, war mein erster Gedanke,

Wenn LehrerInnen schülerzentrierte Lernerfahrungen gestalten, die es den SchülerInnen ermöglichen, mit Unterstützung im Unterricht zu schreiben, wird ChatGPT nicht annähernd so störend sein, wie in einigen Artikeln behauptet wird.

Lehrerinnen und Lehrer jedoch, die sich stark oder ausschließlich auf lehrerzentrierten Unterricht für die gesamte Lerngruppe (also das klassische Unterrichtsmodell) verlassen, werden in der Regel an das Lehrerpult oder die Tafel verbannt.

Bei diesem klassischen Unterrichtsansatz verbringen sie einen Großteil der Unterrichtszeit mit Reden oder mit der Inszenierung der einzelnen Unterrichtsphasen. Infolgedessen haben die Schüler keine Zeit, im Unterricht mit Unterstützung zu schreiben. Viele Lehrer verwenden das lehrergeleitete Modell „Alle in einem Takt“, weil sie unter großem Druck stehen, den Lehrplan abzudecken, oder weil ihr Lehrplan für diese Art Unterricht entwickelt wurde – oder geschrieben zu sein scheint. Diese altgewohnte Denkweise kann aber die Möglichkeiten, die sie im Unterricht mit den Schülerinnen und Schülern haben, einschränken. Der Druck, den Lehrplan abdecken zu müssen, ist ein Problem, mit dem Schulen und Fachgruppen zu kämpfen haben, wenn sie Lehrpläne einführen und von den Lehrern verlangen, dass sie diese getreu umsetzen. Die Einhaltung strenger Lehrpläne kann dazu führen, dass nur noch wenig oder gar kein Raum mehr für andere Dinge als den direkten Unterricht bleibt.

Ist die Technologie das eigentliche Problem oder die Art und Weise, wie wir unterrichten?

ChatGPT ist ein Beispiel für eine Kraft außerhalb des Bildungsbereichs, die den Status quo bedroht, und es wird nicht die letzte Bedrohung sein. Auch die Pandemie hat das Bildungswesen durcheinander gewirbelt und Lehrkräfte gezwungen, schnell auf Online- und Hybridunterricht umzustellen. Die Pandemie und jetzt auch KI-Technologien wie ChatGPT zeigen die Grenzen des traditionellen lehrerzentrierten Unterrichts auf. Er ist nicht flexibel genug, um den gesellschaftlich-technologischen Entwicklungen zu trotzen, die sich jenseits der Mauern unserer Klassenzimmer abspielen.

Und: Wir brauchen keine Angst vor disruptiven Technologien zu haben, wenn wir unseren Ansatz für den Unterricht anpassen und flexiblere Blended-Learning-Modelle einsetzen. Denn es gibt konkrete Schritte für Lehrerinnen und Lehrer, mit denen sie ihre Ängste vor den Auswirkungen dieser und ähnlicher KI-Technologien mindern können.

In dem Zusammenhang könnten zwei frühere Blogbeiträge zur Planung von Blended Learning und den Auswirkungen auf Schul- und Unterrichtsentwicklung besonders interessant und/oder hilfreich sein. Die Methoden im zweiten Blogbeitrag stammen ebenfalls von Dr. Catlin Tucker und wurden von mir für den deutschen Unterricht angepasst:

Schritt #1: Überdenken unseres Ansatzes für Hausaufgaben

Erstens müssen wir die Arbeit, die die Schüler alleine zuhause erledigen sollen, neu bewerten. Ja, für einige Schüler können Hausaufgaben bei der Entwicklung von Selbstregulierungs- und Zeitmanagementfähigkeiten helfen und stehen in einem positiven Zusammenhang mit einem höheren Maß an Selbstwirksamkeit oder Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (Bembenutty, 2011). Für viele Schülerinnen und Schüler stellen Hausaufgaben jedoch ein ernsthaftes Problem mit Blick auf die Chancengleichheit dar (Kohn, 2006):

    • Möglicherweise haben sie zu Hause kein Umfeld, das die Arbeit an schulischen (oder sogar wissenschaftspropädeutischen) Aufgaben begünstigt.
    • Möglicherweise haben sie keinen Zugang zu den Materialien oder Technologien, die sie für die Erledigung der Aufgaben benötigen.
    • Möglicherweise ist kein Erwachsener zu Hause, der die Sprache spricht, in der die Hausaufgaben gemacht werden, oder der über das nötige Fachwissen verfügt, um dem Kind zu helfen, wenn es nicht weiterkommt oder Unterstützung braucht.

Diese Gerechtigkeitsbedenken sind ein Grund, das derzeitige Konzept für die Erteilung von Hausaufgaben in Frage zu stellen.

ChatGPT fügt der Diskussion über Hausaufgaben eine weitere komplexe Ebene hinzu. Wenn wir die Schülerinnen und Schüler bitten, ihre Ideen in einem asynchronen Diskussionsforum zu posten oder zu Hause eine Schreibaufgabe zu erledigen, können sie ChatGPT nutzen, um eine Antwort zu generieren und die Aufgabe an die KI auszulagern. In einem Artikel sagt ein Englischlehrer: „Teenager haben schon immer Wege gefunden, die harte Arbeit des eigentlichen Lernens zu umgehen.“

Als ich das las, dachte ich nur, WIR ALLE finden Wege, die Dinge zu umgehen, die wir nicht wertschätzen.

Wenn Schülerinnen und Schüler kein Interesse an einem Thema oder einer Aufgabe haben oder keinen Wert darin sehen, überrascht es mich nicht, dass sie entweder keine Zeit und Energie in diese Aufgabe investieren oder kreative Wege finden, sie zu umgehen (hier kommt Technologie wie ChatGPT ins Spiel). Schreiben ist eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabe. Schülerinnen und Schüler, die unsicher sind, wie sie einen Text fertigstellen sollen, oder die Probleme haben, Konzepte und Texte zu verstehen, können sich an ChatGPT wenden, um zu vermeiden, dass sie sich stundenlang durch eine Schreibaufgabe quälen müssen. Und nicht zuletzt Noten sind eine starke Motivation für SchülerInnen, Arbeiten einzureichen, die nicht ihre eigenen sind, um keine Punkte zu verlieren.

Schritt #2: Entwerfen Sie Unterrichtsstunden, in denen die Schüler mit Unterstützung schreiben können

Bei der Lektüre von „The End of High School English“ ist mir ein weiteres Zitat aufgefallen: „Die Schüler haben immer schon den Moment erlebt, in dem sie allein vor einem leeren Blatt sitzen oder auf einen blinkenden Cursor starren, der darauf wartet, dass der Aufsatz geschrieben wird.“

Als ehemalige Englischlehrerin an einer High School mit 16 Jahren Berufserfahrung erinnere ich mich an die Zeit, als mir klar wurde, dass ich den Schülern keine schriftlichen Arbeiten mehr mit nach Hause geben möchte. Zum Teil war ich frustriert über die alarmierende Zahl von Schülerinnen und Schülern, die ihre schriftlichen Aufgaben nicht erledigten. Ich erkannte auch, dass sie beim Schreiben Unterstützung brauchten und dass das Feedback, das sie auf ihre fertigen Produkte erhielten, ihnen nicht besonders dabei half, sich in ihrem Schreiben weiterzuentwickeln.

Schreiben ist eine Fähigkeit, die sich erst nach Jahren entwickelt. Anstatt die Schüler mit Schreibaufträgen nach Hause zu schicken, können Lehrer Blended-Learning-Modelle (z. B. Flipped Classroom, Stationenlernen und Playlist-Modelle) verwenden, um Unterrichtsstunden zu gestalten, die Raum für diese Aufgaben in der Schule bieten, in denen die Schüler von der Rückmeldung des Lehrers und der Unterstützung durch Gleichaltrige profitieren.

Ich arbeite zum Beispiel häufig mit Lehrerinnen und Lehrern zusammen, um Unterrichtsstunden nach dem Ansatz des Stationen-Rotationsmodells zu gestalten, um den Schülerinnen und Schülern die Zeit und den Raum zu geben, die sie zum Schreiben in der Klasse brauchen. Dann können die Lehrkräfte ihre lehrergeleitete Station nutzen, um zeitnahes, gezieltes und umsetzbares Feedback zum laufenden Schreibprozess zu geben – und die Schüler können in der Folge dieses Prozessfeedback nutzen, um die Qualität ihres Schreibens zu verbessern.

Wie disruptiv wird ChatGPT sein und was bedeutet das für den Unterricht? (Gastbeitrag Dr. Catlin Tucker) 2

Durch Feedback fühlen sich die Schülerinnen und Schüler im Unterricht gesehen und unterstützt. Dennoch wird viel Zeit darauf verwendet, ihnen zu sagen, wie sie schreiben sollen. Aber es wird nicht genügend Zeit darauf verwendet, sie zu unterstützen, wenn sie den Stift aufs Papier oder die Finger auf die Tasten setzen. Wenn Lehrkräfte vorhaben, allen das Gleiche auf die gleiche Weise zu sagen (z. B. wie man eine These erarbeitet oder eine Erörterung strukturiert), sollten sie ein kurzes Lehrvideo aufnehmen, das die Schülerinnen und Schüler im eigenen Tempo durchgehen und bei Bedarf erneut ansehen können. Wenn sie einen differenzierteren Unterricht anbieten möchten, der sich auf komplexere Schreibfertigkeiten konzentriert, wie z. B. die Analyse von Zitaten, schlage ich vor, diesen Unterricht in die lehrergeleitete Station einzubinden. Auf diese Weise können die Lehrer mit kleinen Gruppen arbeiten, um den Prozess mit Zitaten oder Textnachweisen auf unterschiedlichen Komplexitäts- und Stringenz-Ebenen zu modellieren und die notwendigen Hilfsmittel bereitzustellen, um die Lernenden bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Und: Schon die frühe Umsetzung mit Feedback zu begleiten.

Hier könnte auch der Gastbeitrag von John Warner „Was erhaltenswert ist, wird bleiben – ChatGPT und das Schreiben im Unterricht“ von Interesse sein, der als erfahrener Schreibtrainer, Fortbilder und Berater zu ähnlichen Schlüssen kommt

Schritt #3: Einen breiten Fundus von Unterrichtsmodellen kultivieren und nutzen

Der beste Weg sicherzustellen, dass Pädagogen den unterschiedlichen Bedürfnissen in einer Klasse gerecht werden können und gleichzeitig flexibel genug sind, um die notwendigen Anpassungen vorzunehmen, um Störungen zu überstehen, wie z. B. eine Pandemie oder eine hochentwickelte KI-Technologie, ist die Verwendung einer Vielzahl von Unterrichtsmodellen. Anstatt sich auf einen einzigen Ansatz für die Gestaltung von Lernprozessen zu verlassen, brauchen Lehrkräfte eine Sammlung von Modellen, die es ihnen ermöglichen, die Unterrichtszeit auf dynamischere und vielfältigere Weise zu nutzen.

In unserem Buch UDL and Blended Learning zeigen Dr. Katie Novak und ich, dass Pädagoginnen und Pädagogen Haltungen und Denkweisen, Fähigkeiten und Werkzeuge brauchen, die flexibel genug sind, um in jeder Lehr- und Lernumgebung erfolgreich zu sein. Wir vertreten die Meinung, dass universell konzipiertes Blended Learning Lehrkräfte in die Lage versetzen kann, zugängliche, integrative und gerechte Lernerfahrungen zu gestalten, die es ihnen ermöglichen, die Unterrichtszeit zu nutzen, um alle Schüler zu unterstützen und dabei sicherzustellen, dass sie bei der Erreichung fester, an Standards orientierter Lernziele Fortschritte machen.

Wenn ich Artikel lese und Podcasts über ChatGPT höre, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese KI-Technologie nicht annähernd so beängstigend oder bedrohlich wäre, wenn mehr Lehrkräfte UDL und Blended Learning einsetzen würden.

Wie disruptiv kann ChatGPT also sein?

Das kommt darauf an. Wenn Pädagogen die Unterrichtszeit nutzen, um Informationen zu vermitteln, und den Großteil der schriftlichen Arbeiten in die Hausaufgaben auslagern, dann könnte ChatGPT zu einem geradezu unglaublich großen „Störfaktor“ werden. Das Tool wird jedoch weniger „störend“ oder disruptiv sein, wenn Lehrkräfte die Aufgaben, die sie von den Schülerinnen und Schülern außerhalb des Unterrichts in der Schule verlangen, strategisch und didaktisch begründet auswählen und die Unterrichtszeit dazu nutzen, sie bei der Arbeit mit kontinuierlichem Prozessfeedback zu unterstützen. Es gibt sogar Möglichkeiten für LehrerInnen, die durchaus sprachlich gelungenen schriftlichen Antworten, die von ChatGPT generiert werden, zu nutzen, um den SchülerInnen Beispiele zu geben, die sie analysieren und diskutieren und in ihre Schreibaufgaben integrieren können.

Die Technologie wird sich kontinuierlich und rasant weiterentwickeln. Auch die Bildung muss sich weiterentwickeln und voranschreiten. Dies erfordert, dass Pädagogen weiterhin lernen, experimentieren und wachsen, indem sie neue Ansätze, Strategien und Unterrichtsmodelle testen, die ihnen helfen, diese Arbeit mit Zuversicht und Freude zu erledigen.

Aus dem Englischen von Hauke Pölert & Hermann Dzingel in Zusammenarbeit mit einer KI


[1] Universal Design for Learning (https://www.cast.org/impact/universal-design-for-learning-udl)

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.