Es ist mit den zeitgenössischen Entwicklungen und den damit verbundenen Klagen so wie eh und je: Schlechter werde doch sowieso schon alles. Die Erziehung, die schulischen Leistungen, die Bildung, die Jugend eben im Allgemeinen. Und jetzt auch noch Digitalisierung. Diese Jugendlichen auch noch in der Schule mit ihrem Alltagsmedium arbeiten zu lassen. Unmöglich. Unverantwortlich. Unkontrollierbar.

Die Zeiten ändern sich. Die Rhetorik gleicht sich.

Und so erhielt aus der erlebten Diskrepanz zwischen dystopischen Einwürfen und eigener Unterrichtsrealität die Abirede 2018 am Theodor-Heuss-Gymnasium Göttingen langsam ihre Form.

Es war Zeit für einen Rückblick und ein erstes Fazit nach fünf Jahren im Klassenzimmer…



Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, verehrte Gäste,

die heutige Rede habe ich so gerne wie blauäugig zugesagt – und nun steht uns eine Achterbahnfahrt bevor: Ziemlich persönlich, leicht emotional und mit 5000 Jahren Zeithorizont verstörend ausufernd. Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne und bei der ersten Abi-Rede möchte man wohl einfach alles auf einmal sagen.

Mein früherer Schuldirektor machte es sich da leichter und pflegte zu diesem frohen Anlass jedes Jahr die gleiche Rede zu halten: Die Rede von dem Schiff, auf dem die Schulgemeinschaft – bei Sonne und bei Regen – über den Ozean fahre. Es folgte dann die obligatorische Metapher mit uns als Schrauben und Zahnrädern, ohne die das Schiff nicht fahren könne und ohne deren Zusammenspiel es niemals den Hafen erreiche.

Wir als Schüler belächelten diese gut gemeinten Worte des alten Schulmeisters, der stets große, uns aber unbekannte Dichter und Denker zitierte und in unseren Augen die Tage inmitten seiner staubigen Bücher verbrachte. Wir belächelten ihn auch, weil er uns in seiner Freundlichkeit ganz offensichtlich auf den Leim gegangen war: Denn wir Abiturienten waren – so hatten es uns zumindest manche Eltern und viele Lehrer attestiert – im Vergleich zu früheren Generationen schlecht. Und uns Achtzehnjährigen war völlig klar, dass die Schüler nach uns natürlich noch ungebildeter, noch fauler, noch schlechter erzogen waren als wir.

Und mir war klar: Ich werde niemals Lehrer!

Zu nah waren mir noch die eigenen Späße auf Kosten der Lehrer, der demolierte Klassenraum im Neubau mit dem Ergebnis, dass unsere Chaosklasse fortan in einem Abstellkeller des Altbaus beschult wurde, die vielen blauen Briefe wegen Fehlverhaltens, die mein Vater als Kollege nur mit Mühe vor dem Sekretariat abfangen und damit zahlreiche Klassenkonferenzen verhindern konnte, zu nah noch die Tränen der vom Unterricht simpel, aber effektiv per Besenstiehl ausgeschlossenen Lehrerin…

Und mir war klar: Ich werde niemals Lehrer!

Doch das Leben schreibt seine eigenen Wege, bleibt unvorhersehbar und widersprüchlich – und manchmal kommt alles anders als man denkt. Und als ich mich an einem Januarmorgen des Jahres 2012 sehr spontan doch für das Lehramt entschied, hörte ich noch die Worte der früheren Kollegen im Großkonzern:

Ich würde mich niemals mit diesen Kindern von heute herumschlagen!

Sechs Jahre später halte ich ein Buch des ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes in der Hand. Der Titel: „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt: Und was Eltern jetzt wissen müssen“.

Da kann man doch nur sagen: Ich werde niemals Lehrer!

Möchte ich diesen Befund näher untersuchen, habe ich es bei der Recherche im Gegensatz zum alten Direktor und seinen Schiffsschrauben leichter, denn heute gibt es ja Siri und Google.

Und während Siri mir auf die Frage „Wie findest Du Abiturienten?“ nur antwortet: „Das kann ich echt nicht sagen.“, gibt Big Brother wie gewohnt mehr Auskunft.

Destilliere ich nun aus den ersten zwei Google-Seiten im Sinne der so hippen alternativen Fakten eine hoch-prozentige Aussage über die Abiturienten des Jahres 2018 heraus, ist zu konstatieren: Ihr seid zu alt, zu faul, zu abhängig vom Smartphone und überhaupt, wenn wir einige Suchresultate wörtlich nehmen: Zu schlecht!

Diese präzise klingende Google-Diagnose passt in die Argumentation, deckt sie sich doch mit den Diagnosen zahlreicher historischer Erziehungs- und Bildungsexperten. Wagen wir einen multimedialen Längsschnitt, einen Parforce-Ritt durch die letzten 5000 Jahre – natürlich geleitet vom objektiven Erkenntnisinteresse und dem hehren Ziel, ein wahrhaftiges und realistisches Bild von der Entwicklung der Jugend zu zeichnen:

  • Eine Tontafel der Sumerer, ca. 3000 v. Chr. verfasst, gibt uns einen ersten Anhaltspunkt: „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte“
  • Ähnlich scheint es laut einer Keilschrift um 2000 v. Chr. in Chaldäa zuzugehen: „Die Jugend ist herunter-gekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe“.
  • Wieder 1000 Jahre später das gleiche Bild: „Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“ – schreibt ein frustrierter Zeitgenosse auf einer babylonischen Tontafel.
  • Deutlich wird dann Sokrates im 5. Jhd. v. Chr.: „Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer“, was Aristoteles mit den Zeilen „Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen“ nur bestätigen kann.
  • Liest man dagegen einen gewissen Mönch Peter im Jahre 1274, so versteht man die „Krisen des Spätmittelalters“ ganz neu: „Die Welt macht schlimme Zeiten durch. Die jungen Leute von heute denken an nichts als an sich selbst. Sie haben keine Ehrfurcht vor ihren Eltern oder dem Alter.“
  • Selbst Philipp Melanchthon, der treue Weggefährte Luthers, schließt jede Hoffnung, dass die Seligkeit auf Erden auch für die Jugend gelten könnte, kategorisch aus: „Der grenzenlose Mutwille der Jugend ist ein Zeichen, daß der Weltuntergang nah bevorsteht“.
  • Auch Preußens Gloria und die Schulpflicht können den kontinuierlichen Verfall nicht aufhalten, was ein Schulmeister im 18. Jhd. mit den Worten „Das Sittenverderben unserer heutigen Jugend ist so groß, dass ich es unmöglich länger bei derselben aushalten kann!“ eindrucksvoll dokumentiert.
  • Diskutiert dann 1826 eine Zeitung die „immer lauter werdenden Klagen über die zunehmende Rohheit und Verwilderung unserer Jugend“, so ist 1965 die Intelligenz derart implodiert, dass laut der DIHK „[…] knapp 50 % aller Lehrlinge mangelhafte oder stark defizitäre Leistungen in der Mathematik zeigen“.
  • Dieselbe DIHK bemängelt 2010 erst gar nicht mehr fachliche Aspekte, sondern nur noch die „allgemeine Abnahme von Wert- und Moralvorstellungen, sowie fehlende soziale und personale Kompetenzen“.

Kurz gefasst: Ein 5000 Jahre währender Zeitstrahl des Niedergangs und des Verfalls von Erziehung und Bildung, eine dystopische Melange aus „The walking dead“ und „Breaking Bad“ in der Dunkelheit „From dusk till dawn“, eben ein Blick ins „Herz der Finsternis“, eine Ahnung von „Apocalypse Now“, in dessen letzter Szene der Protagonist nur noch konstatieren kann: „The horror, the horror…“.

Und am Ende dieses Zeitstrahls steht nun Ihr, der Abiturjahrgang 2018.

Spätestens jetzt sollte jedem von der Vernunft geleiteten Menschen klar sein:

Ich werde niemals Lehrer!

Und doch war mir an dem erwähnten Januarmorgen 2012 klar: Ich werde Lehrer!

Es folgten, um im Kontext zu bleiben, kein Drama und keine Tragödie shakespearesken Ausmaßes, keine Untoten in verwahrlosten Klassenräumen und keine Fight Club – Revivals auf dem Schulhof. Ich erlebte eine zuvor in den glattgeschliffenen Unternehmen gänzlich unbekannte Mischung aus Fakt und Fiktion, die Cuvée von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ und einem gepflegten Schuss „Fuck you Göthe“, ja auch „Hangover 1-3“ – aber nein, kein „Narcos“ – gelegentlich auch „Prison Break“, auf den Fluren und beim Blick in die Sitzreihen manches Mal ein Gefühl von „Germany’s next Topmodel“, vielleicht ein Hauch von „Titanic“ im Angesicht des Abiturs, aber vor allem: Gemeinsam erlebte „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“.

Und überhaupt, die Bildungspolitiker haben sich doch auch einiges überlegt, um Euch – die ramponierte Jugend des sich warm laufenden 21. Jahrhunderts – wieder auf Vordermann zu bringen. Das Ziel: Deutschland (und Euch gleich mit) weltweit an China und Südkorea vorbei in die Weltspitze zu katapultieren!

Manchmal frage ich mich, ob Ihr eigentlich mitbekommen habt, dass Ihr (na ja, zumindest für Konservative) so etwas wie die Frankensteins der Bildungspolitik seid. An Euch wurde evaluiert, diagnostiziert und dann mit stumpfen Messern operiert. Ihr seid die letzten G8-Versuchskaninchen im Stall – dafür aber die ersten kompetenten Absolventen: Denn nach den PISA-Pleiten fand die Politik ein Allheilmittel, den Zaubertrank – die Kompetenz! (Liebe Eltern, ich erspare uns Exkurse, aber kurz für Sie: Statt Inhalten, also dem was oben reinkommt, zählt seit Jahren nur noch was hinten rauskommt – Outputorientierung genannt. Das wird jetzt mit Kompetenzen, also Problemlösefähigkeiten, umschrieben, die Ihre Kinder mit Abi perfekt beherrschen.)

Vorbei der Bildungs- und Werteverfall! Das Ende der Geschichte ist erreicht, die schöne neue Welt beginnt! Ihr seid jetzt sach- und methodenkompetent, handlungs-, urteils- und entscheidungskompetent, medien-, präsentations-, selbstreflexions- und selbständigkeitskompetent, kooperations-, konfliktfähigkeits- und diversitätskompetent (sozialkompetent), berufsorientierungskompetent und endlich – nach 12 Jahren – wirklich kompetenzkompetent! Denn dank Eurer Lehrerinnen und Lehrer, die erst mühsam die Kompetenz-orientierungskompetenz erlangen mussten, könnt Ihr Euch nun selbst Kompetenzen aneignen! Toll!

Aber mal kurz unter uns: Ist die Trennung von Inhalt und Kompetenz nicht künstlich? Werden dann nicht der Eigenwert literarischer Texte, die Spannungsbögen und die Brisanz historischer Chronologie, die Zusammenhänge des Periodensystems und der Rechenmodelle nur zum Kompetenzerwerb missbraucht?

Am Ende kreisen Goethe, Kafka und das Periodensystem dank exemplarischen Zugriffs um Euch Schüler, statt Ihr Schüler um sie – die Motivation, die Faszination bleiben auf der Strecke. Nicht ganz grundlos sollen daher wohl laut Curriculum auch Eure „Kompetenzen der Selbstmotivation“ geschult werden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

Und doch war mir klar: Ich werde Lehrer…und das ist maßgeblich Eure Schuld!

Denn ich habe viele von Euch – damals in der 8. Klasse – als die ersten Schülerinnen und Schüler meines Lehrerlebens kennengelernt. Seitdem verliefen unsere Wege parallel – zumindest bis heute.

Bildungspolitische Frankensteins traf ich auf diesem Weg höchstens vereinzelt und auch der Status des Versuchskaninchens schien Euch nicht zu schaden. Eher traf ich (mal mehr, mal weniger) fleißige Sisyphosse, die die Trends des Referendariats (Gruppenpuzzle, Fishbowl, Meldekette, Gallery Walk usw.) so freundlich wie stoisch über sich ergehen ließen. Vor allem aber machte der Unterricht mit Euch einfach Spaß!

[…]

Sollte ich nach diesen eigenen Erfahrungen vielleicht einfach die 5000 Jahre geballter jugendlicher Verfalls-erscheinungen über Bord werfen?

Sollte ich mich als Optimist qua natura vielleicht einfach nicht von den „The horror, the horror…“-Rufen aus der Dunkelheit leiten lassen?

„Gestandene Schwarzseher laufen ihr ganzes Leben lang vor Befürchtungen davon, die gar nicht hinter ihnen her sind“ schrieb der österreichische Lehrer und Aphoristiker Ernst Ferstl. Er trifft damit wohl einen Nerv.

Schon in der Widmung des Kleinen Prinzen trifft der von mir gern gelesene Saint-Exupery einen weiteren: „Alle großen Leute waren einmal Kinder, aber nur wenige erinnern sich daran.“ Und so bleibt es neben Ihnen, verehrte Eltern, das Privileg der Lehrerinnen und Lehrer, täglich daran erinnert zu werden, dass wir in Euch Schülern immer auch unseren eigenen Spiegelbildern – vielleicht vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren und mehr – gegenübersitzen. Dass uns angesichts Eurer vielfältigen, teils verborgenen, Talente, Interessen und Träume immer wieder klar wird: „Was ich hier sehe, ist nur eine Hülle. Das Eigentliche ist unsichtbar …“.

[…]

Tja, und was ist aus dem Abiturienten geworden, der da vor Jahren stand und sagte:

„Ich werde niemals Lehrer!“ ?

Es ist, wie so oft im Leben, alles anders gekommen. Und so kehre ich zum Beginn meiner Gedanken zurück:

Ich muss gestehen, dass der alte Direktor vor Jahren wohl recht hatte mit seiner immer wieder aus der Mottenkiste gekramten Metapher mit den vielen Schrauben und Zahnrädern, ohne die das Schiff nicht fährt.

Weiterhin erscheint es mir inzwischen, als ob den frustrierten Kommentatoren aus Geschichte und Gegenwart mit Blick auf die Jugend vielleicht nur die Hülle, nicht aber das Eigentliche sichtbar wurde.

Und abschließend bin ich mir als Optimist sicher, dass am Ende aus jedem „Geh ma‘ Bier holn, Du wirst schon wieder hässlich“- Sänger der Mottowoche eines Tages ein „Stern, der Deinen Namen trägt“ werden könnte…

Und so ist es maßgeblich Eure Schuld, dass der lehrerfeindliche Junge von damals nur sagen kann:

Es ist schön, Lehrer zu sein! Es war schön, Euer Lehrer zu sein!

Alles Gute!

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