
Martin Fugmann begann seine Tätigkeit im Schuldienst als Lehrer für die Fächer Englisch und Musik und leitete später das Gymnasium Horn Bad Meinberg, bevor er als Schulleiter an die German International School Silicon Valley wechselte. Seit August 2016 ist er Schulleiter am Evangelisch Stiftischen Gymnasium in Gütersloh, in dem alle Schüler*innen mit Laptops im Unterricht arbeiten. Martin Fugmann ist Mitgründer des Projektes eSchool21/NERDL, einem Lernmanagementsystem für Schulen, das an der German International School of Silicon Valley, dem ESG und weiteren Pilotschulen entwickelt und erprobt wird. Seit seiner Rückkehr aus dem Silicon Valley bietet er im Bereich „Digital Learning Leadership“ Führungskräftequalifikationen u.a. für die Dortmunder Akademie für pädagogische Führungskräfte (DAPF) an und berät Schulen, Schulträger, Landesinstitute und Bezirksregierungen in Fragen der Digitalisierung und der damit verbundenen Umsetzungsstrategien.
Der Zukunftsforscher Matthias Horx nimmt uns in seinem Vortrag „Im Rausch des Positiven – die Welt nach Corona“ mit auf eine einjährige Zeitreise. Im September 2021 blickt er zurück auf 2020 und stellt verwundert fest:
Wie schnell sich plötzlich die Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährt haben. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (weil der Businessflieger besser schien), stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrerinnen und Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Home Office wurde für viele zu einer Selbstverständlichkeit, einschließlich des damit verbundenen Improvisierens und Zeit-Jonglierens.
Matthias Horx
Schulentwicklung nach Corona – eine Reise des Gelingens?
In diesem Blogbeitrag möchte ich noch etwas länger in die Zukunft der Schule reisen und Sie mitnehmen in das Jahr 2025: Wir kommen am Reiseziel an und applaudieren uns gegenseitig dafür, dass wir eine Wegstrecke zurücklegen konnten, die von Erfolgen gesäumt war. Selbst unsere Kritiker zollen uns Anerkennung für das Erreichte, denn Vieles, was zuvor undenkbar schien, ist uns zwischen 2020 und 2025 gelungen:
Bildungssystem erhält bessere Zensuren
Im Herbst 2025 attestiert die neueste ICILS-Studie Lehrern und Lehrerinnen und Schülern und Schülerinnen in Deutschland einen deutlichen Kompetenzzuwachs in der Anwendung digitaler Medien. Lehrkräfte zeigen sich überwiegend zufrieden mit der technischen Ausstattung ihrer Schulen und sie nutzen die Ihnen zur Verfügung gestellten Dienstgeräte zur Unterrichtsvor- und Nachbereitung im Home Office wie auch im Unterricht selbst.
Es gibt neue Arbeitszeitmodelle, die Ihnen aufgrund des Einsatzes von digitalen Kommunikationsinstrumenten mehr Flexibilität und vor allem mehr Zeit zur Kollaboration mit Ihren Kolleg*innen ermöglichen.
Ebenfalls im Herbst 2025 bescheinigt eine internationale OECD-Erhebung unseren Schulen signifikante Fortschritte bei der Entkopplung von sozialer Herkunft, Migrationshintergrund und Teilhabe an Bildung. Die Schere der Chancenungleichheit beginnt sich (endlich) zu schließen. Familien mit Migrationshintergrund partizipieren aktiver am Schulleben ihrer Kinder, Apps in ihrer Muttersprache geben Ihnen dabei wichtige Orientierung und Hilfestellungen und vernetzen sie mit ihrer neuen Umgebung. Bilingualität und Mehrsprachigkeit sind selbstverständlich geworden und in Umfragen wird deutlich, dass es besser gelungen ist, eine Willkommenskultur zu etablieren, so dass das Fremde als Bereicherung und nicht länger als Bedrohung und Bürde empfunden wird. Die Ausgaben für Bildung liegen prozentual zum ersten Mal seit Jahren über dem internationalen OECD-Durchschnitt.
Schulen sind pädagogisch-technisch auf dem neuesten Stand
Schulleitungen, Kollegien und Eltern können sich auf technischen Support durch Kommunen und Fachkräfte in den Schulen verlassen und sich (endlich wieder) um pädagogische Schulentwicklung kümmern.
Seit 2021 nutzen alle Schülerinnen und Schüler von der Schule gestellte digitale Endgeräte, sie greifen von überall und zu jeder Zeit auf Ihre Lernmaterialien zurück, verfolgen Ihre Lernfortschritte und nutzen intelligente tutorielle Systeme zielgerichtet für das Lernen. Sie arbeiten auch außerhalb der Schule digital gestützt, erstellen analoge und auch digitale Produkte. Sie vernetzten sich mit Peers aus anderen Ländern und Kontinenten.
In den Schulen haben die Anteile an fächerübergreifenden projektorientierten Unterrichtsformen, in denen Kinder auch altersgemischt lernen, zugenommen. Schüler*innen entwickeln Forscherfragen, setzen sich selbst Ziele, bearbeiten Projekte, und reflektieren begleitet von ihren Lehrer*innen und auf der Basis digitaler und analoger Portfolios Ihre Lernfortschritte. Kinder mit Lernschwierigkeiten werden individuell gefördert, die Zeitressourcen dafür werden aus einem neuen Mix aus selbstverantwortlichem Lernen, inhaltlichem Fachunterricht und flexiblen Lernzeiten gewonnen. Dazu nutzen alle intelligente tutorielle Systeme, mit denen fachspezifische Grundlagen neu erarbeitet, aber auch vertieft werden können. Lernen und Lehren ist von Innovation geprägt. Schulentwicklung insgesamt gelingt digital gestützt partizipativer, indem datenbasiertes Feedback konsequenter als je zuvor zur Selbstevaluation und Weiterentwicklung eingesetzt wird.
Bildung ist regional vernetzt
Intelligente Lernmanagementsysteme unterstützen Schüler*innen in ihrer Bildungsregion im Aufbau einer Bildungsbiographie und im Erwerb der für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts relevanten Kompetenzen. Es gibt regional abgestimmte Bildungsprofile z.B. im Bereich „Sprachkompetenz“, so bauen Kinder bereits im Kindergarten ihr Portfolio auf, nehmen es mit in die Grund- und die weiterführenden Schulen und nutzen es zur beruflichen Orientierung z.B. auf digitalen Bewerbungsportalen. Es gibt einheitliche, regional vereinbarte Beratungsinstrumente, die datenbasiert darüber Aufschluss geben, was Lerner*innen mitbringen und zukünftig noch an Unterstützung benötigen – die Bildungsbiografien der Kinder sind in der Kommune und der Bildungsregion abgestimmt und es herrscht Konsens darüber, welche Beiträge die Schule und alle anderen Bildungspartner dazu leisten müssen, dass die Rucksäcke der Kinder, wenn sie die Schule verlassen, gut gefüllt sind.
Lernen wird personalisiert
In den ersten Kommunen hat man 2024 damit begonnen, das gegliederte Schulwesen durch integrierte Schulsysteme zu ersetzen. Die Ganztagsschule, in der Musikschulen, Sportvereine und andere Träger Angebote machen, wurde zur Regel – die Trennung aus „Fordern am Vormittag“ und „Fördern am Nachmittag“ ist damit überwunden. Die neuen „Häuser des Lernens“ werden von Kindern vom Grundschulalter an bis zum Schulabschluss besucht. Alle geplanten Maßnahmen und Projekte werden daraufhin überprüft, ob Sie dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe und der Chancengleichheit dienen.
Während der Schulschließungen, die partiell immer wieder bis in das Jahr 2021 andauerten, erkannten Lehrkräfte, dass sie neben der Anbahnung von Lernprozessen besonders auf der zwischenmenschlichen Ebene gefordert waren.
Ein Impulspapier zum Distanzlernen des Schulministeriums NRW bündelte pädagogische Positionen, die von Wissenschaft und pädagogischer Praxis seit Jahren gefordert werden: Lernen ist Beziehungsarbeit, Pädagogik steht vor Technik, Lernen gelingt in Projektsettings, Feedback stärkt den Lernprozess in Selbstverantwortung. Lehrkräfte konnten nicht glauben, dass die Ideen der Autoren umgehend durch Reformen bestehender Erlasse Umsetzung fanden: Noch in der Phase des Distanzlernens konnten wir beobachten, dass eine neue Balance zwischen Unterstützung, Kontrolle, Begleitung und Verantwortungsdelegation für die Lernprozesse erreicht wurde – dadurch wurde die individuelle Freiheit und damit die Motivation zu lernen, vergrößert und die Leistungen konnten sich verbessern.
Instruktionsphasen wurden zunehmend in den asynchronen Kommunikationsraum verlegt: In Foren konnten Schüler Reflexionskompetenzen nachweisen, die sie im synchronen Unterrichtsgespräch zuvor so nicht zeigen konnten. Lehrkräfte lernten in asynchron organisierten Distanzphasen sehr viel mehr über die individuellen Lernvoraussetzungen als je zuvor.
Noch während der frühen Phase des Distanzlernens wurden kleinschrittige Übungsphasen zunehmend durch offene Projektarbeit ersetzt. Dazu war es auch notwendig geworden, Prüfungs- und Versetzungsordnungen grundlegend zu reformieren. Noch im Jahr 2020 als Reaktion auf die seit Monaten geschlossenen Schulen geben die Ministerien Formate und Anzahl schriftlicher Leistungsüberprüfungen in der Sekundarstufe frei. Formative Beurteilungsformen, Portfolios etc. ersetzen seitdem unflexibel standardisierte Formen der Leistungskontrollen und offene Formen der Leistungsfeststellung treten an ihre Stelle.
Im Jahr 2021 begann sich damit eine Kultur des personalisierten Lernens zu etablieren: Es war gelungen, die inneren und äußeren Strukturen der Schule mit ihren starren Curricula und Zeitplänen aufzubrechen und damit einer wahren Formveränderung zu unterziehen. Ein Prozess des disruptiven Wandels hatte sich durch die Krise in Lichtgeschwindigkeit vollzogen. Die Lernenden mit ihrem Vorwissen, ihren Erfahrungen, ihrer sozialen und ethnischen Herkunft wurden zum Ausgangspunkt der Bemühungen der Pädagogik. So wie Digitalisierung die industrielle Produktion zu Industrie 4.0 transformierte, gelang es mit digitaler Unterstützung, personalisierte Lernformen in Schule 4.0 wirksam werden zu lassen.
Kinder konnten in ihrem Tempo lernen, in Teams wurde nicht länger aufgabengleiche Arbeitsblattarbeit gefordert, sondern wahre Anwendung von Wissen in kollaborativen Settings. Lernen an außerschulischen Orten wurde nicht länger als „Unterrichtsausfall“ gewertet, sondern war selbstverständlich geworden. Schule hatte sich in die Kommune und die Region hinein geöffnet – seitdem wird für das Leben und nicht mehr nur für die Schule gelernt!
Schule wird selbstständig
„Not macht erfinderisch“ – noch während der Schulschließungen 2020 erkannten die Menschen, wie viel Innovationsbereitschaft, Phantasie und Passion für das Lehren in den Kollegien vorhanden war: Die als sperrig empfundene Barriere zwischen Pädagogik und Technik wurde in wenigen Tagen aufgebrochen – das oft abgelehnte Digitale war für eine kurze Zeit die einzige Perspektive für die pädagogische Profession.
2020 wurde aber auch deutlich, dass Teilhabe an Bildung im Distanzlernen nur mit der entsprechenden Ausstattung an Endgeräten möglich ist – für ein paar Monate drohte das System in eine dramatische Schieflage zu geraten, denn ein Großteil der Kinder hatte keinen Zugang zu Lernangeboten, die überwiegend digital verbreitet wurden. 2021/2022 folgten neue Gesetze, die vorhandenen finanziellen Mittel zur Ausstattung konnten von der Einzelschule unbürokratisch und schnell abgerufen werden, dazu hatte man den Schulen die Selbstständigkeit zurückgegeben, die man ihnen Jahre zuvor genommen hatte: Budgets für Personal, Ausstattung, Infrastruktur, Arbeitszeit werden seit 2021 von der Einzelschule verwaltet. Indem nicht nur Verantwortung und Aufgabenfülle, sondern auch Gestaltungs- und Entscheidungskompetenz an die Schule zurückdelegiert wurde, konnten wir nach kurzer Zeit beobachten, wie sich Schulen von innen heraus reformierten und sich fit machten für das Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert.
Schulaufsicht wurde zu Schulberatung, begleitete und unterstützte die Professionalisierung umfassend. Medienberatungen waren zu Innovationszentren und Inkubatoren umgebaut worden – das deutsche Bildungswesen war international auf der Überholspur und erfuhr die Anerkennung, die es so lange vermissen musste.
Auch dem Lehrkräftemangel begegnete man wirkungsvoll: Die Verantwortlichen waren beruhigt, denn die Befürchtung, dass Digitales Pädagogen überflüssig machen und so Lehrerstellen ersetzt werden können, hat sich nicht bewahrheitet. Duale, berufsbegleitende Lehramtsstudiengänge schafften in kurzer Zeit Abhilfe, die modernisierte Schule wurde wieder zu einem attraktiven Arbeitsplatz.
Lernen in Selbstverantwortung, Selbstwirksamkeitserfahrungen, Feedback, Kollaboration, Projektarbeit, Neugierde, Vernetzung, problemlösendes Denken, Kompetenzorientierung, flexibles Lerntempo, offene Bildungspläne – Prinzipien modernen Unterrichts in Zeiten der digitalen Transformation – in den Wochen vor Corona noch von einer übersichtlichen Gruppe von Pädagogen auf Twitter immer wieder gefordert – nach Corona könnte man sie als Megatrends der pädagogischen Entwicklung bezeichnen, die die Schule transformiert haben.
Zweifel und Widerstände werden den Zug nicht aufhalten
Wir haben die Reise des Gelingens vielleicht schon angetreten, vielleicht dauert sie nicht fünf, sondern 10 Jahre, sicherlich gibt es auch Verspätungen und Abweichungen vom Fahrplan und die eine oder andere Verbindung wird verpasst – die Gepäckstücke mit unseren Vorbehalten, Zweifeln und Widerständen gegen den Aufbruch sollten wir bei der Abfahrt zurücklassen und gut wegschließen – wir sollten den Blick von nun an nur noch nach vorne richten und uns nicht selbst ausbremsen, denn:
Wirkliche Veränderung geschieht nur in Beziehungen, die gleichsam unser Herz, unseren Verstand und unsere Hände im Tun ansprechen. Sie kann nicht verschrieben oder implementiert, nur eingeladen, willkommen geheißen und wertgeschätzt werden.
Beth Mount
Martin Fugmann, Mai 2020
Mein Dank geht an Frau Veronika Schönstein, die mich in Moderationen immer wieder zu dem Format „Reise des Gelingens“ inspiriert hat.