Eine Krise ist vor allem eine Krise
Die wahrnehmbare Euphorie, die die Corona-Krise als Katalysator für einen Digitalisierungsruck in deutschen Schulen feierte, ist angesichts vieler plötzlicher Ermöglichungen in den Schulen verständlich, greift aber zu kurz, da die spontane Digitalisierung in den Schulen nur einen Teil des Ziels von Bildung in der digitalen Welt umfasst.
Als am 16.03.2020 die Schulen geschlossen wurden, war dies zunächst einmal ein Stillstand, der auch Entwicklungen im Bereich der Bildung in der digitalen Welt lahmlegte. Fortbildungen, Tagungen, konzeptionelle Arbeit, der Austausch und das Engagement der vielen unterschiedlichen Beteiligten kamen zunächst zum Erliegen. Auf verschiedensten Ebenen wurde die systematische Entwicklung einer Bildung in der digitalen Welt entsprechend der KMK-Strategie von 2016 insbesondere aber in den Schulen durch den Lock-Down gestoppt.
Was von den Schulen und den Lehrkräften von einem auf den anderen Tag erwartet wurde, war etwas Anderes, etwas, auf das Schulen und Lehrkräfte nicht vorbereitet sein konnten: Digitalisierung sofort und komplett, Distanzunterricht, ohne persönlichen Kontakt. Die Digitalisierung von Prozessen und Lernmaterialien, um Bildungsprozesse mit digitalen Mitteln auch im Lock-Down zu ermöglichen. Hierbei haben viele Schulen und Lehrkräfte ihre Kritikerinnen und Kritiker Lügen gestraft: Es ist ihnen in kurzer Zeit gelungen, sich mit ihren Schülerinnen und Schülern digitaler Mittel zu bedienen, um Grundfunktionen von Schule und Unterricht aufrechtzuerhalten.
Steuerung erfordert Kurshalten in der Krise
Für uns als Kultusbehörde stellte sich angesichts der Notbremsung die Herausforderung, in den Schulen und auch in den Elternhäusern zu unterstützen. Gleichzeitig durften wir als steuernde Behörde den langfristigen Kurs nicht aus dem Blick verlieren. Dies war umso schwieriger, als der Verlauf des Infektionsgeschehens und damit verbunden die Frage der Dauer und Form der Schulschließungen nur das Fahren auf Sicht zuließen. So wurden umfangreiche Maßnahmen mit langfristigem Potential bereits mit Beginn der Krise kurzfristig umgesetzt.
Ein Portal für das Lernen zuhause
Als die Infektionszahlen in die Höhe schossen, stand Niedersachsen kurz vor den Osterferien. So fiel der Unterricht zunächst voraussetzungslos aus. Schulen konnten freiwillige Lernangebote anbieten, waren hierzu aber nicht verpflichtet. Es stellte sich insofern zunächst die Aufgabe, Kinder in digital unterstützten Bildungsprozessen zu halten und Eltern Unterstützungsangebote zur Verfügung zu stellen.
Aus einer Lösung für den Lock-Down kann so ein nachhaltiges Angebot für Unterricht mit digitalen Medien werden, das eine veränderte Lernkultur unterstützt.
Gaby Willamowius
Die Erweiterung des Materialangebots auf dem Niedersächsischen Bildungsserver um Selbstlernmaterialien lag damit nahe. Es wurden Linklisten und Verweise erstellt, und dabei die durch den Lock-Down frei gewordenen Beratungskapazitäten eingesetzt, um qualitativ hochwertige und curricular verortete Materialien zu erstellen und zu veröffentlichen. Inzwischen ist das Angebot enorm entwickelt und kann heute als gute Unterstützung von Lehrkräften genutzt werden für die Organisation von Phasen des selbstständigen Lernens, wie sie im hybriden Unterricht nötig sind. Und langfristig, wenn die Corona-Pandemie hoffentlich überstanden sein wird, kann das Portal als Plattform für selbstgesteuertes Lernen weiter genutzt werden. Aus einer Lösung für den Lock-Down kann so ein nachhaltiges Angebot für Unterricht mit digitalen Medien werden, das eine veränderte Lernkultur unterstützt.
Ein sicheres Cloud-Angebot
Zu Beginn der Corona-Krise befand sich die Niedersächsische Bildungscloud (kurz NBC) im Pilotierungsstadium mit 45 Schulen und zwei Studienseminaren. Ein Roll-Out schien frühestens für 2021 realistisch. Da viele – insbesondere kleinere – Schulen aber im März 2020 noch über kein Kommunikations- und Lernmanagementsystem verfügten, wurde die Aufnahme weiterer Schulen in das NBC-Projekt ermöglicht. Über 1000 Schulen können inzwischen in der NBC arbeiten, weitere rund 600 Schulen kommen in Kürze hinzu. So kann die NBC nun als Open-Source-Lösung genutzt und auf einer breiteren Erfahrungsbasis weiterentwickelt werden. In Kooperation mit weiteren Bundesländern arbeiten wir an einem überzeugenden Cloud-Angebot für die niedersächsischen Schulen, dessen Kick-Off durch die Krise vorzeitig und anders als geplant stattgefunden hat. Viele digital unerfahrene Schulen können von der Möglichkeit einer übersichtlichen Plattform nun anlässlich Corona schneller profitieren.
Hierbei können die Lehrkräfte auf die Beratungsressourcen des Landes sowie auf Online-Tutorials zurückgreifen, die sehr kurzfristig auf diesen Bedarf ausgerichtet wurden.
Schulgebundene Endgeräte für Schülerinnen und Schüler mit Bedarf
Was die Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten anbelangt, so setzen wir in Niedersachsen – wie auch bundesweit – auf das Konzept Bring- bzw. Get-Your-Own-Device. Dabei kommen in den weiterführenden Schulen eltern- bzw. nutzerinnen- und nutzerfinanzierte Endgeräte, die ggf. schuleinheitlich beschafft werden, zum Einsatz. Grundschulen arbeiten im Regelfall mit schulgebundenen Laptop- oder Tablet-Pools, für die viele Schulträger bereits Mittel aus dem DigitalPakt eingeplant haben. Niedersachsen hat schon zu Beginn der Krise nach pragmatischen Lösungen gesucht und in Abstimmung mit dem Bund die restriktive Förderung von digitalen Endgeräten aus dem DigitalPakt Schule gelockert und so den Schulträgern ermöglicht, kurzfristig mobile Endgeräte für Schulen anzuschaffen, die diese ihren Schülerinnen und Schülern als Leihgeräte zur Verfügung stellen konnten.
Nach der Corona-Krise sollen die Geräte nachhaltig eingesetzt werden, beispielsweise als Poolgeräte für den regulären Präsenzunterricht in den Schulen.
Gaby Willamowius
Dieser Vorstoß hat u. a. dazu geführt, dass der Bund und die Länder inzwischen ein „Sofortausstattungsprogramm“ auf den Weg gebracht haben, das dem niedersächsischen Modell gleicht. In Niedersachsen gilt seit Juli 2020 eine Förderrichtlinie, die über 50 Mio. Euro zusätzliche Mittel für digitale Endgeräte zur Verfügung stellt. So können zeitnah Schülerinnen und Schüler mit Bedarf ausgestattet werden. Nach der Corona-Krise sollen die Geräte nachhaltig eingesetzt werden, beispielsweise als Poolgeräte für den regulären Präsenzunterricht in den Schulen. Im Zuge dessen ist zu erwarten, dass sich nun auch digital zurückhaltendere Schulen und Schulträger auf den Weg machen und die ihnen seit 2019 zur Verfügung stehenden Mittel des DigitalPakts zum weiteren Ausbau ihrer schulischen IT-Infrastruktur nutzen werden. Für die Administration wird das Land den Kommunen zusätzliche Mittel in Höhe von 11 Mio. Euro bereitstellen. Auch dies ist ein Schritt, der nun im Rahmen der Krise kurzfristig ermöglicht wurde.
Lehrkräftequalifizierung online
In kürzester Zeit wurden in Niedersachsen neue Formate zur Unterstützung der Lehrkräfte entwickelt. Die Kompetenzzentren für Lehrerfortbildung und die kommunalen Medienzentren bieten seit dem Beginn der Corona-Krise auch Veranstaltungen an, die verschiedene Themen für das „Lernen zu Hause“ umfassen. Neben der Einführung von Werkzeugen und Methoden für das Lernen mit und über digitale Medien gibt es auch Angebote zur Schul- und Unterrichtsentwicklung unter Verwendung von dezentralen Plattformen für eine synchrone und asynchrone Kommunikation und Kollaboration.
Als Reaktion auf die (Teil-) Schließungen der Schulen und angesichts der möglichen Notwendigkeit des hybriden Lernens auch im neuen Schuljahr wurde in der Veranstaltungsdatenbank des Niedersächsischen Bildungsservers zusätzlich das „Digitale Sommerangebot“ gestartet. In den Sommerferien und darüber hinaus wurden fast 170 Online-Veranstaltungen angeboten, um alle Fragen zum Lernen auf Distanz zu beantworten und in neue Lernsettings einzuführen.
Masterplan Digitalisierung
Nicht zuletzt hat die Niedersächsische Landesregierung bereits vor den coronabedingten Schulschließungen 10 Mio. Euro, unter anderem für die Implementierung von innovativen und zukunftsorientierten Technologien in der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften an berufsbildenden Schulen zur Verfügung gestellt. Das Teilprojekt „Digitales Lernen 4.0“ (wohnortnahe Beschulung) forciert die wohnort-/ausbildungsortnahe Beschulung im dualen System der Berufsausbildung, um mit innovativen und digitalen Lernszenarien den Erhalt von Ausbildungsgängen in der Fläche zu sichern, die Mobilitätsanforderungen an die Auszubildenden zu reduzieren und die duale Berufsausbildung attraktiv zu gestalten. Aus diesem Teilprojekt werden wesentliche Erkenntnisse für das Distanzlernen geliefert.
Keine Zukunft ohne Corona
Seit dem März 2020 besteht für alle Verantwortlichen die Herausforderung, auf die akuten Notwendigkeiten entschlossen zu reagieren. Mit Blick auf die Digitalisierung geht es aber gleichzeitig auch um den langfristigen Kurs. Zukünftig wird zumindest regional mit (partiellen) Schulschließungen zu rechnen sein. Wir haben mit unseren Maßnahmen Voraussetzungen geschaffen, mit denen die Schulen im Schuljahr 2020/21 mit der NBC und den bereitgestellten schulgebundenen Endgeräten auf das hybride Lernen vorbereitet sein können. Damit kommen wir im Jahr 2020 im Bereich der IT-Infrastruktur ein gutes Stück voran. Auch bei der Lehrkräftequalifizierung sowie der Erschließung von digitalen Lernmaterialien hat die Krise viele Entwicklungen deutlich beschleunigt.
Hinsichtlich der Gestaltung von Schule, Unterricht, Lernen und Prüfungen stellen sich aus der Krisenerfahrung elementare Fragen […]. Es sind Fragen, die die digitale Transformation an Schule insgesamt und auch an die Bildungsadministration stellt und die nun schneller beantwortet werden müssen.
Gaby Willamowius
Hinsichtlich der Gestaltung von Schule, Unterricht, Lernen und Prüfungen stellen sich aus der Krisenerfahrung elementare Fragen, die wir natürlich noch nicht abschließend beantworten können und die auch nicht im Alleingang geklärt und geregelt werden können. Es sind Fragen, die die digitale Transformation an Schule insgesamt und auch an die Bildungsadministration stellt und die nun schneller beantwortet werden müssen. Gute Antworten können nur aus der Praxis und damit aus dem Erprobten und ggf. auch dem Scheitern gewonnen werden. Dabei kommt es vor allem darauf an, aus Fehlern schnell zu lernen und Anpassungen vorzunehmen, um so praktikable Lösungen zu finden, die als Good-Practice anderen Schulen und Lehrkräften dienen können. Die Reflexion des Handelns wird eine entscheidende Bedingung in der Bewältigung der Corona-Herausforderung und ihrer Bildungsfolgen sein. Als Kultusbehörde müssen wir deshalb nicht nur Rahmenbedingungen setzen, sondern auch den Austausch über Erfahrungen und Erfolge im Blick haben.
Der Digitalisierungs(d)ruck, der derzeit die Bildungslandschaft durchschüttelt, wird deutliche Spuren hinterlassen, nicht nur mit Blick auf die digitale Ausstattung in den Schulen und Zuhause. Es wird bei allen Beteiligten in den Schulen basierend auf realen Erfahrungen mehr Klarheit darüber geben, wo Unterstützung durch digitale Medien sinnvoll sein kann und wo die bisherigen Erwartungen an die Digitalisierung überzogen waren; wo es gilt, digitale Lösungen zu nutzen, und wo die echten Begegnungen zu bewahren sind. Vor allem ist nun eine Haltung wahrnehmbar, die Unsicherheit und Erproben von Lösungen – auch mit Hilfe digitaler Mittel – zulässt. Insofern werden Erfahrungen und Kompetenzen Corona überdauern und eine Basis sein, auf der Schulen systematische Schul- und Unterrichtsentwicklung in Richtung einer Bildung in der digitalen Welt aufbauen können. Darum geht es und nicht um Digitalisierung von Schule.