Kommentar von Stefan Ruppaner „Impuls 2020 – Schule 2030“

Die Alemannenschule Wutöschingen (ASW) hat unter der Leitung Stefan Ruppaners in den letzten zehn Jahren einen beeindruckend dynamischen Schulentwicklungsprozess erlebt. Individualisierung, Kooperatives Lernen und veränderte sowie gänzlich neue Lernorte stehen charakteristisch für die Gemeinschaftsschule an der Schweizer Grenze. Das individualisierte Lernen ohne feste Klassen und mit völlig veränderter Raumstruktur wird durch die Lernplattform „DiLer“ strukturiert und gesteuert. Dem Grundsatz „Eine veränderte Pädagogik bedarf veränderter Räume!“ folgend lernen die Schülerinnen und Schüler der ASW in Inputräumen, auf dem Marktplatz, in Clubs und an zahlreichen außerschulischen Lernorten – denn die Schule hat sich über das Schulgelände hinaus in das „Lerndorf“ geöffnet und mit zahlreichen Kooperationen neue Lernorte geschaffen. Für dieses Gesamtkonzept und ihre gute Schulqualität erhielt die ASW im Rahmen des Deutschen Schulpreises 2019 einen der Hauptpreise.

Stefan Ruppaner nimmt in seinem Gastbeitrag für „Impuls 2020 – Schule 2030“ direkt Stellung zu zentralen Fragen, die sich aktuell allen Beteiligten im Bildungssystem stellen.

Welche Impulse für Schul- und Unterrichtsentwicklung können sich durch die derzeitige Krisensituation kurz-, mittel- und langfristig ergeben?

Mit dem Austausch von Büchern durch Tablets ist nichts erreicht.

Stefan Ruppaner

Das schulische Lernen insgesamt bedarf dringend einer Neuausrichtung. Mit Reformen ist nichts mehr zu erreichen. Dabei ist zu beachten, dass Digitales Lernen nicht isoliert gesehen werden darf. Die Möglichkeiten und Perspektiven, die dabei die Digitalisierung bietet, helfen allerdings ungemein. Ich versuche dies anhand der Alemannenschule Wutöschingen (ASW) zu erläutern:
An der ASW findet man keine Bücher, aber auch keine Klassen, Klassenzimmer oder Unterrichtsstunden mehr. Das zeigt, dass die notwendigen Veränderungen weitaus grundlegender sein müssen. Mit dem Austausch von Büchern durch Tablets ist nichts
erreicht. An der ASW haben wir uns vor 7 Jahren für eine one-to-one-Lösung mit iPads entschieden. Alle Lernenden haben die Möglichkeit für 12 € monatlich ein solches Gerät zu mieten. Dabei sind Versicherung und alle kostenpflichtigen Apps inklusive. Bedürftige unterstützt der Schulförderverein. Herz und Lunge des digitalen Lernens sind allerdings einerseits die Digitale Lernplattform DiLer und andererseits die Materialien zum Selbstverantwortlichen Lernen.
Auf DiLer laufen alle Informationen für Kinder, Eltern und Kollegen zusammen. Dort gibt es z.B. Schultagebuch, Talkie, Kalender und alle Lernmaterialen. Auch die Zeugnisse werden dort geschrieben. Diese Infrastruktur ist beim Digitalen Lernen mit Tablets unerlässlich.
Die Lernmaterialien zum Selbstverantwortlichen Lernen wurden über Jahre in einem Materialnetzwerk erarbeitet, an dem über 50 Schulen mitgearbeitet haben. Inzwischen hat sich daraus die gemeinnützige Genossenschaft Materialnetzwerk eG entwickelt. Das Ziel ist, allen Lernenden hochwertige Lernmaterialien für die neuen Lernformen zur Verfügung zu stellen. Erklärfilme, Apps und digitale Übungen sind ein wichtiger Teil dieser Materialien. Dass dies alles dringend benötigt wird, hat uns Corona eindrücklich bewiesen.

Wird sich die in vielen Kollegien sichtbare Dynamik verstetigen und werden sich Lehr-Lernprozesse nach den Erfahrungen der letzten Wochen nachhaltig verändern oder handelt es sich um einen Einmaleffekt, der völlig überschätzt wird?

Nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen vermute ich tatsächlich, dass die jetzigen Bemühungen im Allgemeinen nicht nachhaltig sind. Es werden zur Zeit auch nur Symptome behandelt und nicht die Krankheit bekämpft. Bei den Kollegien ist sicher viel Engagement und Willen zur Neuerung zu spüren. Leider bleiben die Rahmenbedingungen, die die Politik vorgibt, meist mangelhaft. Somit fehlt für innovative Schulleitungen und Kollegien die dringend notwendige Unterstützung.
Sowohl Pädagogik als auch Architektur und Raumgestaltung müssen von Grund auf erneuert werden. Zum besseren Verständnis möchte ich dies wieder am Praxisbeispiel erläutern:
An der ASW ist die augenfälligste Veränderung eindeutig die geänderte Raumstruktur. Statt Klassenzimmern unterscheidet die ASW 6 unterschiedliche Lernräume: Lernatelier, Marktplatz, Inputräume, Räume für den Clubunterricht, Lebensräume und Digitaler Lernraum.

  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept
  • Alemannenschule Wutöschingen Raumkonzept

In den Lernateliers herrscht absolute Ruhe. Es ist der Bereich für konzentriertes Arbeiten in engem Kontakt mit dem Lerncoach.
Jeder Lernpartner hat dort seinen personalisierten Arbeitsplatz. Das kooperative Arbeiten in Teams, Gruppen- oder Partnerarbeit findet auf dem Marktplatz statt. Dort kann im Stehen, Sitzen und Liegen gelernt werden. Für die konzentrierte, kompakte Wissensvermittlung stehen die Inputräume zur Verfügung. Der Clubunterricht, der 3-stündig in den Nebenfächern stattfindet, sucht sich Unterrichtsräume im Dorf und in der Region. Beispiele dafür sind Bauernhöfe, der Wald, die Wutach, Firmen, Räumlichkeiten von Kirchen und Vereinen und der Sitzungssaal des Rathauses. Für die Gestaltung der Mittagsfreizeit sind Lebensräume zum Genießen, Ausruhen und für Sport und Bewegung unabdingbar.

Das Home-Office funktioniert so gut, dass wir in der Zeit nach Corona das Lernen zuhause als festen Bestandteil des Lernens in das bestehende Konzept aufnehmen wollen.

Stefan Ruppaner

Zentraler Lernraum ist der Digitale Lernraum, der durch die Nutzung der Lernplattform DiLer und die one-to-one Lösung mit iPads das Rückgrat des individualisierten Lernens darstellt.

Durch die Corona-Zeit ist klar geworden, dass es in Zukunft noch einen siebten wichtigen Lernbereich geben wird: Das Home-Office funktioniert so gut, dass wir in der Zeit nach Corona das Lernen zuhause als festen Bestandteil des Lernens in das bestehende Konzept aufnehmen wollen. Es gibt auch Kinder, die daheim besser lernen als in der Schule. Dieser Umstand sollte allen zu denken geben.

Welche Chancen hat und welchen Grenzen unterliegt die Bildungspolitik unter den aktuellen Bedingungen?

Wenn ich von einer Neuausrichtung des Bildungswesens spreche, stehen nicht nur die Arbeitsbedingungen der Schülerinnen und Schüler, sondern vor allem die der Lehrerinnen und Lehrer zur Debatte. In diesem Bereich besteht dringender Handlungsbedarf. An der Alemannenschule wurde gehandelt:
Die Lehrkräfte der ASW verstehen sich nicht als Lehrer, sondern als Lernbegleiter. Eine Lernbegleiterin unterrichtet keine 28, sondern nur 12 Deputatsstunden. Die restliche Zeit steht den Lernpartnerinnen und Lernpartnern oder zur Kooperation mit dem restlichen Kollegium zur Verfügung. Eine Lehrkraft betreut ca. 14 LernpartnerInnen auf ihrem Lernweg und pflegt zu ihnen eine persönliche Beziehung. An der ASW wird von vielen nicht im Deputatsstunden- sondern im Zeitstundenmodell gearbeitet. Dabei sind die Kollegen einfach 35 Zeitstunden in der Schule anwesend. In dieser Zeit wird unterrichtet, vorbereitet, kooperiert und betreut.

Die Politik traut sich weder an das Thema Arbeitszeit der Lehrer noch an die Themen Arbeitsplatz und mediale Ausstattung.

Stefan Ruppaner


Ein Arbeitsplatz inclusive iPad und MacBook wird vom Schulträger zur Verfügung gestellt.
Die Politik traut sich weder an das Thema Arbeitszeit der Lehrer noch an die Themen Arbeitsplatz und mediale Ausstattung. Jede Firma stellt selbstverständlich ihren Beschäftigten optimale Gerätschaften zur Verfügung, um deren Arbeitskraft optimal zu nutzen. Im Schulwesen hat man diese einfache Regel aus der freien Wirtschaft anscheinend noch nicht verstanden.

Wie könnten und sollten sich Schulen in Bezug auf Lehr-Lernprozesse unter digitalen Bedingungen positionieren?

Der entscheidende Baustein ist die Haltung. Wenn ich das Schulbuch durch ein iPad ersetze, ist nichts gewonnen. Nur wenn sich die Einteilung von Raum und Zeit und die Einstellungen ändern, kann ein digitales Werkzeug erfolgreich eingesetzt werden. Im materiellen Bereich sind dann der Einsatz von Digitaler Lernplattform und Tablets unabdingbar. Sehr wichtig sind außerdem digitale Lernmaterialien, die den Anspruch an das selbstverantwortliche Lernen erfüllen. Diese werden allerdings in naher Zukunft durch die gemeinnützige Genossenschaft Materialnetzwerk eG für alle kostenlos zur Verfügung gestellt. Diese Hürde entfällt somit sehr bald. Mit der richtigen Haltung gelingt es sehr leicht ein solches digitales Lernkonzept umzusetzen.

Wie könnte ein pädagogisches Leitbild – nennen wir es „Impuls 2020 – Schule 2030“ – in diesem Kontext gestaltet sein?

Die ASW hat vor 9 Jahren ein Leitbild entwickelt, das heute noch trägt und Grundlage für alle Veränderungsprozesse war und dies immer noch ist. Es sind nur 4 Sätze. Diese aber sind die Grundlage für die nötige Haltung, die möglicherweise auch für „Impuls 2020 – Schule 2030“ gelten könnte.

Stefan Ruppaner & Johannes Zylka: Veränderte Pädagogik braucht veränderte Strukturen - Impulse für Schulentwicklung am Beispiel der Alemannenschule Wutöschingen 1
Leitbild der Alemannenschule Wutöschingen

Umsetzung in der Praxis – Videoportrait der Alemannenschule Wutöschingen

Für Interessierte hier einige Eindrücke aus einem Videoportrait, das während eines Besuches durch das Italienische Schulentwicklungsinstitut (INDIRE) entstand:


Kurzkommentar von Johannes Zylka

Johannes Zylka forschte nach seiner Promotion an der Pädagogischen Hochschule Weingarten am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt. Vor seinem 2019 begonnenen Engagement in der Lehrerbildung war er als Lernbegleiter und Mitglied im Schulleitungsteam der Alemannenschule Wutöschingen tätig. In dieser Zeit entstand auch sein Buch „Digitale Schulentwicklung. Das Praxisbuch für Schulleitung und Steuergruppen“.

Wir haben Mitte April. Gute vier Wochen ist es her, dass Schulen vielerorts geschlossen wurden und die Schüler/innen zu Hause mit ihren Eltern lernen (müssen). Die Herausforderungen in dieser Situation wurden in den vergangenen Wochen – u.a. auch in den auf diesem Blog publizierten Beiträgen – vielfältig diskutiert: Dazu gehören

    1. Digitale Ausstattung der Schulen
    2. Digitale Kompetenzen der Schüler/innen
    3. Digitale Kompetenzen der Lehrpersonen
    4. Sich verstärkende soziale Ungerechtigkeiten
    5. Fragwürdige Qualität der aus dem Boden gestampften (digitalen) Lehr-Lernsettings (…)

Im Rahmen einer kurzfristig eingeschobenen Sonderausgabe der Zeitschrift „Lehren & Lernen“ mit dem Thema „Lernen in Zeiten von Schulschließungen“ hatte ich die Gelegenheit, sehr intensiv mit einigen Schüler/innen, Eltern, Lehrpersonen und Schulleitungen zu sprechen.

Dabei zeigte sich in der aktuellen Situation eine immense Kluft zwischen denjenigen Schulen, die in den vergangenen Jahren sehr aktiv Schulentwicklung betrieben haben – bspw. einigen Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises 2019 – und denjenigen Schulen, die dies nicht taten. So antwortet Stefan Ruppaner auf meine Frage, wie das Lernen momentan an der Alemannenschule Wutöschingen funktioniert:

„Ach, eigentlich hat sich gar nicht so viel geändert. Die Lernpartner/innen können auf alle Materialien in ihrer gewohnten Struktur zugreifen, die Lehrpersonen führen tagtäglich Lerncoachings als Videokonferenzen über unsere Lernumgebung DiLer, die datenschutzrechtlich alle gesetzlichen Vorgaben erfüllt, durch. Sie lernen jetzt eben zu Hause – und ehrlich gesagt frage ich mich, ob das in Zukunft nicht öfters möglich sein kann. Einige Schüler sagen mir, dass sie endlich in Ruhe zu Hause lernen können und nicht so lange unterwegs sein müssen.“

Stefan Ruppaner

Er ergänzt aber auch, dass dabei natürlich die Situation zu Hause entscheidend ist.

So berichtete mir eine Schülerin, die kurz vor ihrem Realschulabschluss steht, in der ersten Woche nach der Schulschließung, dass das Lernen sie zwar vor Herausforderungen stelle, dass aber ihre Lehrerin einen intensiven Kontakt pflege, wodurch sie motiviert sei. Eine Woche später – kurz vor den Osterferien – schien allerdings die Motivation verflogen.

Was bedeutet diese Rückmeldung aber im Falle von Schüler/innen, die gar keinen persönlichen Kontakt zu ihren Lehrer/innen haben, die lediglich vielfältige Anweisungen per E-Mail bekommen? Diese sehr offene Rückmeldung führt mich zu dem Gedanken, dass vielerorts an der jetzigen Situation nicht viel zu ändern ist und dass wir – alle im schulischen Bildungsbereich engagierten Personen – uns dessen bewusst sein müssen, dass diese Zeit gerade viele unbequeme Wahrheiten über das schulische Lehren und Lernen aus dem Dunkel ins nicht zu übersehende Licht bringt.

Mancherorts führte die Situation zu wildem Digitalisierungs-Aktionismus: Lernplattformen wurden aktiviert, Accounts auf die Schnelle freigeschaltet und Lernmaterialien fach- und klassenspezifisch hochgeladen. Und das, obwohl weder die notwendigen Kompetenzen der Lehrpersonen vorhanden sind, die Unterrichtssettings fast ausschließlich auf analogen Materialien basieren und die Digitalisierung in der Organisationentwicklung bislang keine Rolle spielt. 

Nicht zufällig sind diese vier Beispiele die Dimensionen der „Digitalen Schulentwicklung“: Wollen Schulen auch mittel- und langfristig von der aktuellen Situation profitieren, gilt es, diese vier Ebenen gerade jetzt selbstkritisch im Blick zu halten.

Stefan Ruppaner & Johannes Zylka: Veränderte Pädagogik braucht veränderte Strukturen - Impulse für Schulentwicklung am Beispiel der Alemannenschule Wutöschingen 2
Das Vier-Wege-Modell der Schulentwicklung (Johannes Zylka, Digitale Schulentwicklung, 2018, S. 44)

Behalten Schulen diese vier Ebenen im Blick, dann stehen die Chancen gut dafür, dass das Jahr 2020 zu einem entscheidenden Kick-Off für die eigene Schulentwicklung avancieren wird.


Umsetzung in der Praxis – die Lernplattform „DiLer“

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