Jan Vedder: Schule im Wandel – von Kernproblemen zu Lösungsansätzen 1

Jan Vedder ist Lehrer an einer Oberschule und Pädagogischer Seminarleiter am Studienseminar in der Region Hannover. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind die Schul- und Unterrichtsentwicklung rund um das ‚Lernen unter den Bedingungen der Digitalisierung‘ und eine ‚Schule im Wandel‘. Sein Engagement dokumentiert er in seinem Blog „Vedducation„, auf dem sich zahlreiche Beiträge zum Thema finden.

An seiner Schule unterstützt er den Aufbau einer 1:1 Ausstattung der Schüler*innen mit Tablets und bildet dort das Kollegium fort und weiter. In der Lehrerausbildung leitet er eine Zusatzqualifikation zu Medienbildung und ist für die Implementierung von Digitaler Bildung im Referendariat zuständig. Jan Vedder ist darüberhinaus als Workshopanbieter und Referent in Deutschland unterwegs.

Schule im Kontext inklusiv-digitaler Bildung benötigt einen nie da gewesenen Wandel, eine Transformation, um Kindern und Jugendlichen schon heute zeitgemäßen Unterricht zu ermöglichen. Ein Unterricht, der gestaltungskompetent macht, um die massiven Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen. Unsere Traditionsschule ist ein Auslaufmodell – ein schwerfälliger Tanker, ein künstliches und krankmachendes System, ein marodes Gebäude (bildlich und wirklich). Unsere große Aufgabe besteht darin, ein neues Verständnis von Lernen und Lehren im 21. Jahrhundert zu entwickeln und zu gestalten. Junge Menschen müssen sich Wissen, Kompetenzen und Haltungen aneignen können, die sie zukunftsfähig, selbstbestimmt und selbstwirksam werden lassen. Dabei müssen wir immer wieder vermeintlich Bewährtes hinterfragen, Strukturen reformieren, Komfortzonen verlassen, unbequeme Fragen stellen und das System Schule hacken. Wir brauchen keine Diskussionen um Betriebssysteme, keine weitere Tablet-Versuchsklasse, keinen neuen Namen über dem Eingang der Schule. Wir brauchen den großen Wurf!

    • Wie kann so ein großer Wurf angegangen werden?
    • Welche Weichen müssen gestellt werden?
    • Wie kann eine konkrete Veränderung aussehen?
    • Welche Entwicklungsfelder sollen bearbeitet werden?
    • An welchen Punkten können wir schon heute ansetzen?

5 Kernprobleme

Um sich den Antworten zu nähern und erste Lösungsansätze zu entfalten, bedarf es einer klaren Benennung der wesentlichen Kernprobleme unseres Schulsystems. Dieses negativ gezeichnete Bild liefert zugegebenermaßen ernüchternde Erkenntnisse:

    1. Die Werte unserer Schule sind die Werte des Industriezeitalters

Um zukünftige Generationen auf die Herausforderungen in unserer global vernetzten Digitalgesellschaft vorzubereiten, braucht es andere Kompetenzen als die Werte und Organisationsformen zu Zeiten der Industrialisierung. Wenn zukünftig 50% der Berufe, wie wir sie kennen, wegfallen, darf sich Schule nicht weiterhin an Fabriken und Schreibsälen orientieren.  

    1. Fremdbestimmung ist das Paradigma unserer schulischen Lernorganisation

Junge Menschen erleben in ihrer Schulzeit vor allem Eines: Fremdbestimmung. Seit 1911 werden die Inhalte feinsäuberlich nach Fächern gegliedert und scheibchenweise in der Schule serviert. Ein Stundenplan soll das Lernen organisieren; für alle gleich. Lernende folgen diesem Plan seither mit dem gewünschten Gehorsam. Wer nicht ins Raster passt, ist ein Schulversager.

    1. Unsere Schule bietet wenige authentische Lernsituationen

Um zukünftige Schule zu gestalten und authentisches Lernen zu fördern, braucht es entsprechende Handlungssituationen für den Unterricht. Größere Sinnzusammenhänge und gehirnfreundliche Lernsettings werden im themenorientierten Unterricht deutlich mehr gefördert als durch die Unterteilung in Fächer. In Deutschland ist der Trend jedoch oft gegenteilig. Die Forderung nach noch mehr Fächern kommt in regelmäßigen Abständen auf die Agenda: Glück, Achtsamkeit, Ernährung, Medienbildung usw. Dies führt allerdings weder zu vernetztem Denken und Arbeiten, noch zur Förderung der 4K. Es fördert erst Recht keine authentischen Lernsituationen, sondern macht schulisches Lernen sogar noch künstlicher.

    1. Unser Unterricht lässt kaum Platz für Leidenschaften und eigene Interessen

Die fehlende Authentizität von schulischem Lernen hängt auch ganz eng mit der fehlenden Selbstbestimmung in Schule zusammen. Das Lernen dort ist geprägt von Steuerung und Fremdbestimmung. Vorgegebene Inhalte, festgelegte Ziele und ein starrer Stundenplan blenden wichtige Aspekte von Lernen aus. Serendipität und die Entfaltung von Selbstwirksamkeit sind praktisch unmöglich.

    1. Lehre im Gleichschritt widerspricht dem Gedanken von Individualisierung und Inklusion

Inklusive Lernsettings sind hochgradig heterogen. Zwischen den Lernenden liegen z.T. Jahre an Entwicklungsstufen. So ein Setting erfordert individuelles und passgenaues Lernen, gepaart mit kooperativen wie selbstgesteuerten Lernprozessen. Dies funktioniert nicht im Gleichschritt und frontal gesteuert. Keine Lehrperson kann das angemessen leisten – auch nicht in Doppelsteckung mit Förderschullehrkräften. Bei echter Inklusion sind individuelle Zugänge mehr denn je gefragt. Es geht dabei nicht nur um personenzentrierte digitale Lernressourcen, sondern schlichtweg um digitale Teilhabe und Mitbestimmung. Für Alle!

4 Entwicklungsfelder

Für eine umfassende Betrachtung des Transformationsprozesses von Schule ergeben sich m.E. weitreichende Konsequenzen vor allem für die Schulorganisation, die Leitung von Schule, den Unterricht (Lehren und Lernen) und die Rolle der Lehrenden. Diese vier Säulen einer ‚Schule im Wandel‘ sind Chancen und Herausforderungen zugleich. ‚Schule im Wandel‘ stellt die Dimensionen des Lernens (Das Was, Warum, Wie, Wann und Wo) in den Mittelpunkt aller anzustrebenden Veränderungen.

Jan Vedder: Schule im Wandel – von Kernproblemen zu Lösungsansätzen 2
Entwicklungsfelder für Schulen (Jan Vedder)

Für manche Einwirkungen benötigt es sicher komplexe Weichenstellungen und auch politischen Willen und Unterstützung. Genauso bieten sich aber für jede einzelne Schule – gerade jetzt in Zeiten von Corona – Chancen, neue Wege zu gehen. Corona wirkt dabei wie ein Brennglas für die o.g. Kernprobleme. Lösungswege gestalten wir nur im Tun, im ständigen Austausch und durch Reflexion.

4 Lösungsansätze

Ansatz 1: Unterricht – Reden übers Lernen

Um mit tradierten Unterrichtsmodellen zu brechen, müssen Kollegien tief eintauchen in die Rolle der Lernenden. Unterricht aus der Brille der Schüler*innen zu betrachten ist dabei ein Schlüssel zum Erfolg. Dazu braucht es Zeiten und Ressourcen für kollegiale Gruppenhospitationen. Meist wird der Schwerpunkt dann jedoch auf die Beobachtung der agierenden Lehrperson und damit auf die Lehre und die ‚Inszenierung’ von Unterricht gelegt. Bei der Lesson Study Methode geht es hingegen explizit um die Wirkung des Unterrichts auf das Lernen der Schüler*innen. Der Fokus liegt bei den Lernenden und ihrem Lernprozess. Gewonnene Erkenntnisse sollen dazu beitragen, dass Lehrpersonen Kinder und Jugendliche beim Lernen noch besser unterstützen, ihren Unterricht anpassen und weiterentwickeln. Lesson Study ist eine Form kooperativer und evidenzbasierter Unterrichtsreflexion, die folgende Ziele verfolgt:

    • Weiterentwicklung von Unterrichtsqualität
    • Besseres Verständnis des Lernens der Schüler*innen
    • Förderung eines schüleraktiven Lernens
    • Erprobung neuer Lösungsansätze
    • Erweiterung des Handlungsrepertoires von Lehrenden
    • Förderung der Kooperation von Lehrer*innen.

Ausführlichere Informationen zur Lesson-Study-Methode von Roland Knoblauch gibt es unter anderem hier. Unterricht unter diesen Perspektiven zu beobachten lässt die o.g. Kernprobleme schnell transparent werden.

Was kann ein Lösungsweg sein?

Schon heute kann jede Schule eigenverantwortlich Freiräume schaffen.

Nach Vorlage des Konzeptes der Initiative ‚Schule im Aufbruch‘ geht es im Besonderen um die Ermöglichung von solchen Freiräumen, welche „zentrale Zukunftskompetenzen wie Mut und Vertrauen in Ungewissheit förder(n) und junge Menschen befähig(en), mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität umzugehen. Der FREI DAY macht Schulen zu WERK-Stätten, WIRK-Stätten und TAT-Orten für weltverantwortliches Handeln.“ (https://www.frei-day.org)

Lernen in Schule kann demnach problemorientiert, kontextbezogen, lernerzentriert und projektartig organisiert werden. An unserer Schule (Oberschule Berenbostel) gehen die Lernenden am FREI Day ihren eigenen Fragen, Interessen und Themen nach. So wagen wir zum Schuljahr 2020/21 den Schritt weg von klassischen Fächern und organisieren Unterricht themenorientiert in Lernzeiten und Barcamps. Dabei werden unsere Schülerinnen und Schüler auch Irrwege gehen, sich verrennen und scheitern. Aber: Ist das nicht das Prinzip des Lernens?

Ansatz 2: Die Rolle der Lehrenden – Reden übers Scheitern

Schulentwicklung steht und fällt mit den drei H: Haltung, Haltung und Haltung. Derart radikale Umwälzungen bezogen auf den Unterricht und letztlich auch auf die Schulorganisation funktionieren nur, wenn sie von einem Team getragen werden. Sicher werden wir Fehler machen, doch nur, wenn wir Fehlerkultur als Ausgangspunkt unseres eigenen lebenslangen Lernprozesses begreifen, verstehen wir, wozu die zukünftigen Generationen befähigt werden müssen. Die Veränderung des Settings hat naturgemäß unmittelbare Konsequenzen für mein eigenes Lehrerhandeln und meine Rolle innerhalb des Lernarrangements. Logische Konsequenz ist der Rollenwechsel vom ‚Sage on the stage‘ zum ‚Guide on the Side‘. Vom Gatekeeper des Wissens zum Lernbegleiter, Mentor und Feedbackgeber.

Lehrerinnen und Lehrer sind Veränderungsagenten. Es beginnt also bei uns selbst. In unserem Unterricht. An unseren Schulen. Wir dürfen aktive Gestalter sein. Ausprobieren – Entdecken – Fehler machen – Verwerfen – Experimentieren – Reflektieren – Vernetzen. Diese Schritte werden die Lehrenden im 21. Jahrhundert gehen müssen, um Schule und den eigenen Unterricht professionell weiter zu entwickeln oder ihn im besten Fall neu zu definieren.

Ansatz 3: Schulleitung – Reden über die Zukunft

So ein Gestaltungs- bzw. Transformationsprozess lässt sich nicht allein als Graswurzelbewegung und Bottom-up organisieren. Insbesondere in den Leitungspositionen braucht es Visionen und Mut. Rolle und Haltung von Leitung im Kontext der digitalen Transformation und Inklusion sind ein wesentlicher Faktor. Dies gilt für Schule und Wirtschaftsunternehmen gleichermaßen: flache Hierarchien, die Weisheit der Vielen (Die Weisheit der Vielen von James Surowiecki) und ‚leading from behind’. Kennzeichen eines solchen Führungsstils ist die Überwindung schwerfälliger und überholter Hierarchien, zu Gunsten einer agilen Organisation mit verteilten Autoritäten: Keine Zuordnung von Aufgaben nach Ämtern, sondern nach Potenzialen. Denn nur die Potenzialentfaltung im Kollegium und das Empfinden von Selbstwirksamkeit des Einzelnen kann zu einer Identifikation mit dem Betrieb (in diesem Fall Schule) und schließlich zu echter Schulentwicklung führen.

Im Zusammenhang mit der Digitalisierung z.B. bedeutet dies, dass Schulleitungen keine Experten auf diesem Gebiet sein müssen. Es geht vielmehr um ihre Qualität, den Kollegien Selbstverantwortung zu geben (Empowerment!) und für die neuen Möglichkeiten zu begeistern. Gesucht sind also Change-Manager mit einem transformationalen Führungsstil (siehe unten).

Auf Seiten der Schulleitung sind für den Prozess im Besonderen folgende Kompetenzen erforderlich:

    • Identification: Vorbild und Vertrauen
    • Inspiration: Motivation durch Herausforderungen
    • Stimulation: Förderung selbstständiger und kreativer Problemlösekompetenz
    • Consideration: Individuelle Förderung und Coaching
    • Fairness: Effektive Kommunikation
    • Entrepreneurship: Unternehmerische Haltung (Innovation)
    • Volition: Umsetzungsstärke (Ergebnisorientierung)

(Quelle: Quelle: Pelz, W.: Transformationale Führung – Forschungsstand und Umsetzung in der Praxis. In: Au, Corinna von (Hrsg.): Leadership und angewandte Psychologie. Band 1: Wirksame und nachhaltige Führungsansätze. Berlin: Springer Verlag 2016.)

Das Anstreben einer transformationalen Führung hat logischerweise Folgen für das Kollegium und das Verhalten aller Mitwirkenden in der Schule. Die richtigen Köpfe für diese Positionen zu finden, ist sicherlich die größte Herausforderung. Unternehmer- und Innovationsgeist sind nicht die vorrangig zu erlernenden Skills in der Lehrerausbildung.

Ansatz 4: Anfangen – Reden übers Machen

Zusammen mit der Schulleitung muss es darum gehen, eigene Ressourcen im Kollegium sichtbar zu machen und vor allem zu nutzen. Regelmäßige Mikrofortbildungen (Mikrofobis) können der Startpunkt für eine gemeinsame Unterrichtsentwicklung und eine neue Schulkultur sein. Die Idee hinter den Mikrofobis beruht auf dem Prinzip „Each one teach one“ (deutsch: „jeder bringt jedem etwas bei“). In diesem Zusammenhang bedeutet das, dass Lehrer*innen ihre Expertise mit Kolleginnen und Kollegen teilen und sich so gegenseitig (fort-)bilden. Dies geschieht ohne zeitlichen oder finanziellen Aufwand und vor allem direkt vor Ort an der Schule. Diese Methode der internen Fortbildung wird bei uns vor allem für das Lehren und Lernen mit dem Tablet genutzt, da unsere Schüler*innen ab Klasse 5 ein eigenes Tablet für den Unterricht nutzen. Hier liegt folglich der größte Fortbildungsbedarf. Grundsätzlich lässt es das Format bzw. das Prinzip der Mikrofobis aber auch zu, andere Entwicklungsschwerpunkte einer Schule abzubilden und einen regelmäßigen Austausch zu generieren. Weitere Informationen und Details dazu sind hier nachzulesen.

Mikrofortbildungen sind eine einfach realisierbare Möglichkeit, den Chancen und Herausforderungen eines zeitgemäßen Unterrichts zu begegnen. Sie sollten fester Bestandteil des Fortbildungskonzepts in allen Schulen sein, denn das eigene Kollegium bei der Gestaltung einer digitalen Lernumgebung zu fördern und zu begleiten ist unabdingbar. Dafür reicht auch kein einmaliger Fortbildungstag mit externen Referenten. Es braucht regelmäßige und niedrigschwellige Angebote und die Möglichkeit zur Rückfrage in der eigenen Komfortzone. Es braucht auch eine entsprechende Haltung der Schulleitung, damit die Fortbildungen eine möglichst große Reichweite erzielen. Teile der Schulleitung besuchen bei uns regelmäßig selbst die Mikrofobis.

In diesem Format werden Kolleginnen und Kollegen an unserer Schule zudem zu Multiplikatoren und wir nehmen „Alle“ mit auf den Weg in die Schule von morgen. Wohlwissend, dass bei den kurzen Veranstaltungen natürlich nicht ganze Theorien erklärt oder Konzepte erläutert werden können, geht es hier viel mehr um erste Schritte.

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Fazit

Die Mehrdimensionalität von Unterricht und Schule ist gleichermaßen Herausforderung wie Chance für eine nachhaltige Veränderung des Systems Schule. Es gibt nicht den einen Königsweg. Es gibt Tendenzen. Wir werden Fehler machen und Umwege gehen und daraus lernen (müssen). Um den Change-Prozess in Schulen einzuleiten und die Transformationsprozesse in der Gesellschaft auch im Bildungswesen sichtbar zu machen, bedarf es verschiedener Hebel (persönlich, politisch und ideologisch). Der erste und wichtigste Schritt ist vor Ort in den Schulen anzufangen. Mit den hier entfalteten Lösungsansätzen kann das gelingen. Für die Zukunft unserer Kinder.

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